Mittwoch, 25. September 2013

1923: Raymond Radiguet: Le diable au corps (Frankreich)


After so much outrageous behaviour, I didn't realize that this night of the hotels was a turning point. But if I imagined that it was possible to stumble through life in this way, then Marthe sitting in the corner of the carriage on our return journey, exhausted, devastated, teeth chattering, understood everything. Perhaps, in a speeding railway carriage, she even saw that at the end of this mad year of ours, it could only end in death.

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Es gibt eine Figur - sie trägt, anders als der Erzähler, einen Namen: Jacques -, die am Rand des Romans immer präsent bleibt, dessen Welt aber nicht leibhaftig betritt. Vor allem aber findet alles, was sich an Skandalösem ereignet, für Jacques, den es zuinnerst betrifft, gar nicht statt. Seine Frau, Marthe, betrügt ihn mit einem Gymnasiasten, dem Erzähler, während Jacques an der Front in Lebensgefahr ist. Sie tut das aber in einer anderen Raum- und Zeit-Zone. Diese ist es, die Raymond Radiguet in diesem Buch etabliert. Es ist der Raum einer emphatischen Liebesgemeinschaft, die sich um die Reaktionen und Meinungen der näheren und ferneren Mitwelt nicht schert.

Auch nicht um die Meinung des Lesers. Den holt der Erzähler, ohne sich je seines Verständnisses oder gar der moralischen Zustimmung zu versichern, ins Boot. Die komplizierten und vollständig narzisstischen Überlegungen, die ihn antreiben, und die immer schon eher Verwicklungen des Begehrens sind als dessen simpler konventioneller Ausdruck (bis hin zum zeitweisen Desinteresse an Marthe), teilt dieser Erzähler in kühner Naivität mit. Er versichert sich nicht, nicht in seinen Handlungen, nicht in der Beschreibung seiner Innenwelt, die sich in der von der Außenwelt scharf gesonderten Paarliebeswelt gesondert noch einmal öffnet. Kürzer gesagt: Le diable au corps ist ein Roman der Asozialität.

Ein einziges Mal sieht - und hört - der Erzähler Jacques, den Rivalen (es ist aber die Frage, ob man ihn auf diesen traditionellen Begriff bringen kann). Da aber exisitert die Welt außerhalb der Ordnung nicht mehr, in der die Liebe zu Marthe ihren Raum und ihre Zeit hatte. "Ich begriff, dass sich zuletzt die Ordnung um uns herum wieder herstellt." Sagt der Erzähler, der diese Ordnung in diesem letzten Kapitel, in dem Moment, in dem er diese fast letzten Worte schreibt, so brutal wie pervers reetabliert hat. Marthe ist tot, Jacques nimmt das Kind, das der Affäre entsprang und das den Namen des Erzählers trägt, als falsche Frucht seiner eigenen Ehe an. Man kann Ordnung dazu sagen, aber alles an ihren Voraussetzungen ist Betrug. Was natürlich nicht heißt, dass sie sich nicht leben ließe. Ganz im Gegenteil.

Freitag, 20. September 2013

1922: Karel Capek: Továrna no absoluto (Tschechien)


This name which Marek gave to his atomic boiler is, of course, quite incorrect, and is one of the melancholy results of the ignorance of Latin among technicians. A more exact term would have been Komburator, Atomic Kettle, Karbowatt, Disintegrator, Motor M, Bondymover, Hylergon, Molecular Disintegration Dynamo, E.W., and other designations which were later proposed. It was, of course, the bad one that was generally adopted.

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Einem genialen Erfinder ist es gelungen, die Kraft der Atome zu nutzen. Materie wird bei der so möglichen Herstellung von Energie restlos verbraucht. Restlos, und auch wieder nicht. Statt wirklich gar nichts bleibt etwas anderes übrige: das Absolutum. Es wird, zuvor in Materie gebunden, befreit. Die Folgen sind verheerend, wie man sich vorstellen kann. Wer in die Nähe eines der handlichen Atomreaktoren ("Karburatoren") gerät, beginnt in Stimmen zu sprechen, der Levitation zu frönen, Sekten zu formen, Hallelujah zu singen, kurz: wird religiös. Um einen bestimmten Gott oder Glauben geht es dabei nicht, alles kommt recht, was den klaren Blick auf die Realitäten transzendent trübt.

Schöne Idee. Und hier und da malt Karel Capek das bis recht weit ins Absurde hinein auch schön aus. Es endet in Glaubenskriegen mit mehr oder minder vollständiger Auslöschung der Menschheit. So weit, so apokalyptisch. Die Figuren - der Erfinder, der Fabrikant, ein Karussellbesitzer, der abhebt - bleiben Chiffren. Einen wirklichen Plot gibt es nicht. Die Satire findet keinen einheitlichen Ton. Mal schrill, mal zurückhaltend. Mal geht es um Mikrokritik, dann geht die Welt unter. Ein Abflug aus der Satire ins Fantastische als Produktion einer überzeugenden eigenen Welt findet nicht statt, ist wohl auch nicht intendiert. Da man den religionskritischen Punkt und die Steigerungslogik schnell begreift; da aber uninteressante Ereignisse mit uninteressanten Figuren den Fortgang der Handlung retardieren, ohne dass übergreifende Formstrukturen die Spannung erhielten, ist das bald ermüdend. Mehr als eine Kurzgeschichte war da eigentlich nicht drin.

Montag, 16. September 2013

1921: Rafael Sabatini: Scaramouche (Großbritannien)


For your eloquence and your arguments shall be my heritage from you. I will make them my own. It matters nothing that I do not believe in your gospel of freedom. I know it - every word of it; that is all that matters to our purpose, yours and mine. If all else fails, your thoughts shall find expression in my living tongue.

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Eine Romanze aus der Französischen Revolution: Der Untertitel trifft es, trifft auch das Frivole dieses Historienromans. Von der Provinz, der Bretagne aus nähert er sich dem Zentrum, Paris, in den Jahren (vor) der Revolution. Einen tollen Helden hat er, André Louis-Moreau, Anwalt von Beruf, Swashbuckler, Schauspieler, Teufelskerl von Bestimmung. Er wiegelt die Massen auf, ohne überzeugt zu sein von der Notwendigkeit der Revolte; zugleich aus echter Empörung über den skrupellosen Mord an einem Freund, mit dessen Stimme er spricht. Für Moreau ist vieles ein Spiel, ein Experiment, er ist in manchem mit Diderots Konzept vom Darsteller verwandt: keiner, der in seinen Rollen aufgeht, sondern einer, der in jeder Rolle noch über diese reflektiert und mit ihr spielt - und den gerade das zu den erstaunlichsten Anverwandlungen und Virtuositäten befähigt.

Auf die Bühne flieht er als politisch Verfolgter. Die ziemlich verpeilte Commedia-dell'Arte-Truppe, in die er durch reinen Zufall gelangt, mischt er auf und führt sie zu Erfolgen auf öffentlichen Bühnen. Ein wenig allegorisiert Rafael Sabatini hier, mit dem Commedia-dell'Arte-Theater, auch sein eigenes Unterfangen. Eine eigentlich nicht mehr ganz auf dem Stand des ästhetischen Materials befindliche Kunstform, der wenig durchpsychologisierte, von keinen Formexperimenten angekränkelte Abenteuerroman, wird auf sehr überzeugende Weise reimaginiert und wiederaufgeführt. (Die Nachnamensgleichheit der Helden lässt vermuten: Scaramouche ist auch als Kontrafaktur von Flauberts Revolutions-Nichtromanze Education sentimentale intendiert.)

Aufs Theater folgt Schwertkampf, erst im Privaten, dann auf den Bühnen der sich jetzt tatsächlich entfaltenden Revolution. André-Louis Moreau ist ein tolles Subjekt für einen solchen Roman, durch und durch Spieler, Liebender, der sich von zwischendurch gefassten Heiratswünschen schnell wieder losmachen kann. Scaramouche in der Tat, Clown mit verstellter Sprache, einer, den das Schicksal beutelt wie der Sturm ein Schiff auf der See, und doch auch einer, der da nur deshalb heil rauskommt, weil er zwar ohne großen Plan, aber als Situationsmächtiger ein beträchtlich begabter Steuermann seiner selbst ist.

Mittwoch, 11. September 2013

1920: Colette: Chéri (Frankreich)

"My poor Chéri! It's a strange thought that the two of us - you by losing your worn old mistress, and I by losing my scandalous young lover - have each been deprived of the most honourable possession we had upon this earth!"

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Am Ende sieht Léa von Ronval eine alte, atemlose Frau im Spiegel, die ihre eigenen Bewegungen ausführt: Das ist, wie sie weiß, sie selbst, wenngleich sie sich fragt, "was sie mit dieser verrückten Kreatur zu tun haben könnte". Chéri ist ein Roman über Selbstbilder, aber mit einem Twist. Ein Roman darüber, wie Léa von Ronval, die nicht mehr ganz junge Frau (sie ist um die fünfzig), sich durch die Liebe und Beziehung zu einem jungen Mann einen Spiegel schafft, in dem sie sich bewundern kann. Und wichtiger noch: Weil in seinem Blick ihr Selbstbild und das Bild, das die Gesellschaft sich von ihr macht, zur Deckung kommen, ist wahr, was Léa imaginiert: Sie ist noch begehrenswert, sie ist noch nicht alt.

Chéri ist kein Roman über die im Titel genannte Figur, den jungen Mann. Mit ihm hat Léa ein Verhältnis, lange Jahre, und es irritiert ihn wenig, dass sie seine Mutter sein könnte. Freilich sind sie an sehr unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben. Er experimentiert im Vorraum seiner eigentlichen Erwachsenenbiografie, die Hochzeit mit einer Gleichaltrigen steht bevor und findet statt (er muss erst einmal enttäuscht werden, das ist klar). Für Léa ist es der letzte Akt einer durch eigene Willens- und Self-Fashioning-Kraft hinausgeschobenen Jugend. Was nun folgen kann, zeichnet Colette mit schonungsloser Bösartigkeit. Grotesk geschminkte Greisinnen, die im Kontrast zwischen ihrem gewaltsam aufrechterhaltenen Selbstbild und den Blicken der Mitwelt (und denen Léas bzw. erst recht Colettes) nur lächerlich scheinen können.

Eine letzte Rückkehr Chéris, eine letzte Liebesnacht besiegeln die Unwiderruflichkeit des Wandels, der eingetreten ist: Trotz äußerster Sehnsucht kann Chéri in Léa nicht mehr sehen, was sie in ihr zu sehen ihm durch Verführung möglich gemacht hatte. Der Verkehr der Imaginationen ist zusammengebrochen, die Wiederaufnahme muss, weil der Wunsch und der Wille zu stark sichtbar geworden sind, scheitern. Was bleibt, ist der nüchterne Spiegel zwischen den Fenstern. Darin die alte Frau, die Fremde, die verrückte Kreatur, die Léa von Ronval von nun an für die Anderen und vor allem, das ist das Schlimme, auch für sich selbst ist.

Freitag, 6. September 2013

1919: Federigo Tozzi: Con gli occhi chiusi (Italien)

Pietro betrachtete den Rauch, und dabei sah er - wie etwas ganz Reales, das ihm ein Unwohlsein verursachte -, seine Mutter vor sich, wie sie zu Hause zu einer Schublade ging und etwas herausnehmen wollte. Aber alles wich vor ihr zurück! Und als sie trotzdem nicht aufgab, verschwand die Schublade in der Wand. Da war es ihm, als spüre er ihre Hände auf seinem Gesicht, wie einen großen Kuß: also ob die Hände ihn küßten.

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Der Vater ist ein fremdes Prinzip. Gastwirt in Siena, "Il Pesce Azurro", es gibt in seinem Leben nichts als Geld und Besitz und niemand bekommt etwas umsonst. Der Sohn, Pietro, den ihm die Frau nach sieben Toten als achten und gebar, kann ihm nur schwächlich erscheinen mit seiner Liebe zu Büchern, mit seiner Indolenz, dem Fehlen jedes entschlossenen Willens. Fast, denkt man, lebt dieser Sohn für ihn nicht. Pietro besucht die Malschule, vielleicht ist etwas mit Kunst das, was er sucht, aber es gelingt nicht, eine schiefe Zeichnung wird kurz vor Augen geführt, er verfolgt das nicht weiter. Scheitern, ohne es groß versucht zu haben: darauf läuft vieles in seinem Leben hinaus.

Die Liebe vor allem. Da ist Ghisola, die Nichte seiner Amme, mit der er auf dem Gehöft des Vaters gespielt hat. Sie begehrt er, oder eher: Sie zu begehren ist er entschlossen. Und er sieht nicht, oder will nicht sehen, dass Ghisola längst eine ausgehaltene Frau ist. Er nähert sich ihr, er verspricht ihr die Ehe, will sie aber davor nicht berühren. Daraus macht Tozzi, der Wissensvorsprünge erlaubt, dagegen aber per erlebter Rede auch Empathie mit seinem Protagonisten stellt, einen komplizierten Schreittanz des Unausgesprochenen. Das Öffnen der Augen erfolgt spät, sehr spät, auf der letzten Seite erst - nicht als Erlösung, sondern als Einsturz einer zuvor schon mehr als prekären Existenz, für die das Leben (dies Leben) selbst ein fremdes Prinzip scheint.

Dienstag, 3. September 2013

1918: Booth Tarkington: The Magnificent Ambersons (USA)


When times are gone they're not old, they're dead! There aren't any times but new times!

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Ein Abgesang, ein großer Abgesang - und im übrigen mittlerer Teil einer Trilogie aus Standalone-Romanen, von denen dieser nicht nur wegen der Verfilmung durch Orson Welles der berühmteste ist. (Booth Tarkington erhielt auch einen seiner beiden Pulitzer-Preise dafür.) Die Ambersons, magnificent noch im Titel und in der Tat zu Beginn des Romans, sind eine zu Reichtum und Ruhm in der Stadt gelangte Familie. Sie besitzen Häuser und Grund, man kennt ihren Namen und beobachtet sie und ihr Tun wie das kleiner Könige. Der Beginn, von dem aus es hinab und dahin und Richtung Gegenwart geht, spielt kurz nach dem Bürgerkrieg. Schauplatz ist eine ungenannte Stadt, die nach Indianapolis modelliert ist - Tarkington gilt als großer Epiker des Mittleren Westens.

Epos heißt hier: Es wird über Generationen erzählt. Im Zentrum steht, als Figur, die den Niedergang erlebt und verkörpert, George Amberson Minafer, ein Mann, der in Stolz und Selbstgerechtigkeit blind ist für das, was sich um ihn herum vollzieht. Seine Mutter hatte einst den solideren, aber eben auch wenig aufregenden ihrer zwei Bewerber gewählt. Der Konkurrent kehrt nach zwanzig Jahren zurück in die Stadt, als Unternehmer und Innovator: Er baut und verkauft Autos. Erst rufen ihm die Jungs auf den Straßen noch "Gitt a hoss!" hinterher, dann sieht auch der gleichfalls spottende George Amberson - in jeder Hinsicht hoch zu Roß - nur noch die Rücklichter des neuesten Wagens. Ziemlich kompliziert überkreuz sind die Liebesgeschichten gebaut, die Tarkington gekonnt tragifiziert. Die Mutter liebt den, den sie nicht nahm, noch jetzt. Der Sohn unterbindet die nach dem Tod des Vaters mögliche Ehe, hat freilich ein Auge auf die Tochter des Autounternehmers geworfen.

Das ist ohne Zweifel etwas schematisch. Das Auto als Dingsymbol des Fortschritts: Geschenkt. An der Deutung lässt Tarkington mit einem elegischen Einstieg kaum einen Zweifel. "The Magnificent Ambersons" ist Abgesang, erzählt von Niedergang. Alles wird grau im Ruß der Industrialisierung. Jedoch sieht der Erzähler genau hin und kennt mit den Verblendeten, die mit der Zukunft keine gemeinsame Sache machen, selbst fast keine Gnade. Noch das letzte, was von den Ambersons blieb, der Name einer immer unbedeutender werdenden Straße im einstigen Zentrum der Stadt, wird beseitigt. In einem letzten Atemzug immerhin werden die Familien versöhnt.