Donnerstag, 19. Dezember 2013

1941: Alexander Lernet-Holenia: Mars im Widder (Österreich)

Einmal, als Wallmoden die Bahn entlangging, sah er einen Expreßzug vorbeifahren. Er kam offenbar aus Pest oder Preßburg und fuhr nach Krakau oder Warschau. Er führte Speisewagen und Schlafwagen mit sich. Aber er fuhr so schnell, daß Wallmoden die Leute nicht genau wahrnehmen konnte, die darin saßen. Es war, als flögen die Gesichter von Gespenstern vorüber. Er schien ihm, daß der Zug, aus einer ganz andern Welt kommend, in eine ganz andre Welt fuhr. Hier jedoch war keine Welt. Hier war etwas wie ein Zwischenreich.
***

September 1939. Wien. Ein Mann sieht auf einer Gesellschaft eine Frau. Er begleitet sie nach Hause. Sie ist, sie bleibt etwas mysteriös, sie hat schöne Beine. Er übergibt in ihrem Auftrag einen Brief, an einen Mann, der wohl auch nicht ist, wer und was er scheint. Es wird von Geistererscheinungen erzählt und über Schicksal geredet. Wallmoden heißt "die Hauptperson - um nicht zu sagen der Held". So wird er eingeführt. Ein schöner Held ist das, weiß selten was er tut, weiß manchmal nicht, ob er wacht oder träumt, ob die Frauen, die hinter der spanischen Wand in seinem Zimmer baden, real sind oder nicht. Oder eine Frau oder zwei. Von den Krebsen, die später, da ist dann schon Krieg, wir sind schon in Polen, in endloser Reihe über die Straße marschieren, zu schweigen.

 Die Frau mit den schönen Beinen heißt Kouba Pistolkohrs, sagt sie. Was für ein Name. Noch dazu falsch, angenommen, angeeignet, falscher Pass, das klärt sich, und klärt sich nicht, deutlich später. Am Schluss. Wallmoden, der schon im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, sehr jung damals, ist mit seinen Schwadronen nun auf Polenfeldzug. Kontext gibt es nicht, die Realität, wie Alexander Lernet-Holenia sie beschreibt, ist nur ein seltsamer Dämmer, aus dem die Namen merkwürdiger und manchmal nur halbrealer Personen und die Namen polnischer Dörfer und Städte auftauchen, um wieder zu verschwinden.

 Übergenau im Halbrealen, das ist "Mars im Widder". Wie die Kommas, die der Autor so reichlich und einschubfreudig setzt, aber nichts kommt dadurch in Fluß, es werden Grenzen gesetzt in Sätzen, die stolpern und die den Dämmer des Ganzen nie wirklich zerreißen. Spät-k.u.k. Ein Mann wie ein Held, ein Mann wie ein Geist, ein Mann, der am Ende träumt oder tot ist, jedenfalls fliegt er in die Luft. Der Roman erschien als Vorabdruck in der Zeitschrift "Dame", die Buchveröffentlichung verbot Goebbels. Kein Wunder, es fehlt jeder sichere (schon gar ideologische) Grund.

Freitag, 13. Dezember 2013

1940: Dino Buzzati: Il deserto dei Tartari (Italien)

And beyond it, on the other side, what was there? What world opened up beyond that inhospitable building, beyond the ramparts, casemates and magzines which shut off the view? What did the northern kingdom look like, the stony desert no one had ever crossed? The map, Drogo recalled vaguely, showed beyond the frontier a vast zone with scanty names - but from the eminence of the Fort one would see some village, pastures, a house; or was there only the desolation of an uninhabited wast?

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Auf dem Pferd zieht er hinaus an die Grenze. Da liegt das Fort. Dahinter die Steppe, Berge am Rand und im Hintergrund als möglicher Feind die Tartaren. Im Fort seufzt die Zisterne, auch sonst Geräusche, die auf der Grenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem liegen. Giovanni Drogo, der Soldat, ein kleiner Josef K., kam, um schnell wieder zu gehen, und blieb Jahre, Jahrzehnte. In diesem Fort an der Grenze, die für die Grenze steht wie das Fort für das Leben, existenzialistisch gesehen, und der Tod für den Tod. Die Tartaren wären dann Verwandte von Monsieur Godot, avant la lettre, und wenn sie kommen, dann kommen sie nicht für uns, also den Helden Drogo. Der ist, wenn sie kommen, nämlich schon so gut wie hinüber.

Allegorisches also. Kafkanah, denkt man. Weil aber Kafka Kafka vor allem auf der Ebene seiner Sätze ist, die einander hintertreiben, denen Wort für Wort nicht zu trauen ist; und weil Kafka Kafka auf der Ebene seiner Denkbewegungen ist, die einander umschleichen, die sich den Boden, auf dem sie eben noch liefen, im nächsten, wenn nicht im selben Moment wegziehen; weil das bei Kafka so ist, bei Dino Buzzati jedoch nicht, ist das so kafkanah eben auch wieder nicht. Hier gehen die Sätze geradeaus, stehen stramm, wenn man so will, und auch die Gesamtallegorie macht keine Fisimatenten.

Es ist aber Platz für Episoden, etwa die vom anderen Sterben. Im Traum erst und dann auf dem Berg und im Schnee rafft es den Soldaten Angustina dahin: ein Bravourstück, kristallklar erzählt, nur hätte man sehr gut schon verstanden, dass im wirklichen Tod der Traum aus einem Kapitel vorher rekapituliert wird - es steht aber in Klammern alles immer noch einmal dahinter. Dino Buzzati traut also dem Leser nicht recht, und auch nicht sich selbst. Alles gnadenlos finster, nun gut. Aber auch alles so schrecklich verständlich.

Dienstag, 10. Dezember 2013

1939: John Fante: Ask the Dust (USA)

My plight drove me to the typewriter. I sat before it, overwhelmed with grief for Arturo Bandini. Sometimes an idea floated harmlessly through the room. It was like a small white bird. It meant no ill-will. It only wanted tohelp me, dear little bird. But I would strike at it, hammer it out across the keyboard, and it would die on my hands.

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Das ist Prosa, die singt. Sie singt von Arturo Bandini, dem Mann, der mit aller Macht Schriftsteller werden will. Sie singt davon, wie er das Leben nur als Stoff für sein Schreiben begreift. Aber weil die Stimme dieser singenden Prosa Arturo Bandini selbst ist, bricht diese Stimme im Singen von Anfang an. Und dieses Ich, "Ich, Arturo Bandini", spricht von sich nicht nur als (noch dazu erkennbar autobiografisch modelliertes) Ich, sondern eben auch als dieses Er, dieser Andere, Arturo Bandini, dem man als identifkationssüchtiger Leser die Schuld geben mag an manch verwerflicher Tat dieses Ich.

Da ist die Frau, die er aufsucht im Diner (wo sie kellnert), die er von sich wegstößt, die er quält, bei der er keinen hochkriegt am Strand, der er folgt, auf die er wartet, die sich ins Unglück stürzt mit den Drogen, mit dem anderen Mann mit seiner purple prose und mit TBC (wer weiß) in der Wüste, den sie liebt, der aber nichts von ihr will, sie mit rassistischen Sprüchen brutal vor den Kopf stößt. Und Arturo Bandini, der Möchtegernschriftsteller, der zum Schriftsteller wird, der alles, was ihm widerfährt, in Literatur verwandelt; der manches oder vieles oder alles nur tut, damit es Literatur werden kann; und der darüber hier schreibt, coming full circle, wie er als Nichtsnutz und Autor lebt, schreibt, nichtschreibt, liebt, nichtliebt, und das alles verwechselbar mit John Fante, dessen Mentor Henry Louis Mencken hier sehr wiedererkennbar in Briefen als ein Mr. Hackmuth auftritt.

Großartig ein Kapitel, das fast exterritorial zum Rest des Romans steht. Eine andere Frau, draußen, nicht in der Stadt, er fährt da raus und erlebt was und bevor er zurückkehrt, gibt es eine heftige Erschütterung, ganz buchstäblich, die Erde bebt und dann zurück in L.A. ist alles so drunter und drüber, wie es sich für diesen finsteren Schicksalsgesang des Arturo Bandini gehört. Der Mann schreibt sogar Erdbeben herbei. Was nur zeigt: Schreiberelend gebiert Größenwahn. Die Stadt mag wanken, die Sätze aber singen ungestört weiter.


Samstag, 7. Dezember 2013

1938: Evelyn Waugh: Scoop (Großbritannien)

Everything seemed quiet enough, but it was as much as their jobs were worth to say so, with Jakes filing a thousand words of blood and thunder a day. So they chimed in too. Government stocks dropped, financial panic, state of emergency declared, army mobilized, famine, mutiny, and in less than a week there was an honest to God revolution under way, just as Jakes had said. There's the power of the press for you.

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In den besseren Kreisen von London haben die Missverständnisse keine schlechten Eltern: Da wird auf einer Party ein Name geflüstert, Boot, Autor viel gelobter Romane, sapienti sat, der Premier schätzt ihn auch, und schon macht der Name an den richtigen Stellen die Runde; es trifft nur alles, weil keiner wirklich Bescheid weiß, und über Details wie Vornamen ist man erhaben, den Falschen. In Ishmaelia, irgendwo in Afrika, ist die Hölle los (möglicherweise) und weil die Zeitung - sie trägt den Namen Daily Beast - einen Korrespondenten vor Ort braucht, wird der ganz falsche Mann mit dem halb richtigen Namen, ein Boot vom Land und nicht aus der Stadt, ein Boot, der es mit der Fauna hat und nicht der Politik, dorthin verschickt. Er packt gut ein, bricht spät auf, hat als unser Mann in Ishmaelia mehr Glück als Verstand und trifft auf ein Kätchen. Dass er ohne viel eigenes Zutun den Super-Scoop landet, versteht sich, wie so vieles hier, fast von selbst, weil es das Genre verlangt.

Dieser Roman ist Satire. Er sucht den komischen Effekt. Schickt darum eine forsche Nebenheldin slapsticknah mit Babycar über Bordstein und Graben. Mit dem komischen Effekt ist es so, dass er immer wieder gelingt. Mit der Satire ist es anders. Auch sie gelingt, aber sie nimmt von der ersten Zeile an überhand, und das ist ein Problem. Was Scoop sich erfindet, ist eine ziemlich sterile eigene Welt, in der gleich alle und alles um mehr als ein sanftes Stück aus möglichen Wirklichkeiten verrückt sind. Da ist zu wenig harte Arbeit am Realitätsmaterial, da ist ein zu souveräner Zugriff auf Figuren und fremdes Land und fremde Leute. Von der Zeitung und vom fernen afrikanischen Land bekommt man so kaum mehr als Waughs Vorurteile zu beidem zu sehen.

Man ist amüsiert, klar. Aber ist das Humor, der sich zynisch gibt, oder Zynismus, der humoristisch tut? Macht es sich Waugh nicht, wenn ihm die eine Haltung zu heikel wird, in der anderen und damit unvereinbaren Haltung bequem? Ich fühlte mich jedenfalls unwohl, und nicht der Verhältnisse, sondern der ästhetisch-ethischen Unklarheit wegen, über die Waugh nicht hinauswill. Es kommt dazu, dass Ross Thomas sowas später sehr viel besser gemacht hat, besser weil böser, weil genauer, weil ohne aufs bloße Klischee der vom breiten Publikum ohnehin angenommenen Milieuschäden zu zielen. Seine Figuren leben. Und seine Sätze töten.

Montag, 2. Dezember 2013

1937: Joseph Roth: Das falsche Gewicht (Österreich)

Die meisten sterben dahin, ohne von sich auch nur ein Körnchen Wahrheit erfahren zu haben. Vielleicht erfahren sie es in der anderen Welt. Manchen aber ist es vergönnt, noch in diese Leben zu erkennen, was sie eigentlich sind. Sie erkennen es gewöhnlich sehr plötzlich, und sie erschrecken gewaltig. Zu dieser Art Menschen gehörte der Eichmeister Eibenschütz. 

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Postlapsarisch, von Anfang an, diese Geschichte: Anselm Eibenschütz hat seinen Abschied genommen beim Militär, hat eine Frau geheiratet, ohne es so recht zu wollen, wurde ans Ende der k.u.k-Monarchie versetzt, trägt seinen Schnurrbart noch immer mit Stolz, ist aber kein Soldat mehr, sondern ein Eichmeister, den in der Stadt an der Grenze zu Russland weiß Gott niemand braucht. Man lebt hier gut mit falschen Gewichten, jeder weiß um den Betrug und einer, der die krummen Linien, mit denen alle glücklich sind, mit dem Lineal des Gesetzes geradezuziehn versucht, macht sich vor allem eines: außerordentlich unbeliebt.

Einmal auf der schiefen Ebene gerät - den geraden Linien des Rechts sehr zum Trotz - alles ins Rutschen. Eibenschütz verliert die Lust an seiner Frau. Sie betrügt ihn und gebiert einen Sohn, nicht von ihm. Und Eibenschütz verliebt sich, in die Frau, die einem andern gehört, und als der abserviert ist, muss er sehen: Noch immer hat er sie nicht exklusiv, im Winter taucht ein Kastanienbrater auf mit Vorrecht. Die Dinge stehen also sehr schlecht. Eibenschütz beginnt zu trinken. Die Cholera kommt, tötet wahllos, auch Eibenschütz' Ehefrau, sie winkt ihm noch einmal zu, er verliert auch den Sohn, der nicht sein Sohn ist.
Alles ist düster und wird nur noch düstrer. Eibenschütz verliert in Unglück und Alkohol jedes Maß. Er lässt sich gehen, wird in der Ausübung des Gesetzes auf der anderen Seite fanatisch.

Der Ehrgeiz von Joseph Roth: Die Melancholie des Niedergangs einer Welt aus jeder Pore seiner Figuren zu schwitzen, in jede Ritze des gottverlassenen Kaffs an der Grenze zu schreiben. Falsch sind die Gewichte, falsch ist das Leben: Anselm Eibenschütz ist die Verkörperung eines Niedergangs, dem Joseph Roth seine eigene Poesie abgewinnt. Das Glück: vergänglich. Die Gesellschaft: zerfällt. Die Zukunft: schwarz in schwarz. Dafür jedoch ist Roths Prosa gemacht: Sie singt sehr schön vom Ende einer Epoche. Kein Benjaminscher Engel, eher eine unglücksbesoffene Nachtigall der Geschichte.

Dienstag, 26. November 2013

1936: C.F. Ramuz: Le garçon savoyard (Schweiz)

Sie hatten den See gerade an der Spitze ihrer Schuhe. Der See war an jenem Morgen erdfarben, so daß es war, als breitete sich unter ihnen eine riesengroße, dunkelgraue, von etwas helleren, sich überkreuzenden Straßen durchzogene Ebene aus. Sie war glatt und unbewohnt. Auf ihrer Oberfläche war übergenug Raum für Städte, Dörfer, Gebäulichkeiten aller Art, für Äcker und Felder und für einen großen Menschenverkehr: und so wunderte man sich, daß kein Mensch dort zu sehen war, weder auf den Straßen, die sich über das Wasser zogen, noch zwischen ihnen.

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Von einem Satz zum nächsten springt das Tempus, und im nächsten zurück: Präsens, Präteritum, Plusquamperfekt. Es ist kein Halten, es ist kein Halt. Einer träumt von einer Seiltänzerin, vom Zirkus, legt wie im Traum die Hände um den Hals einer anderen Frau, sie zu töten. Die ist es nicht, die er will, auch die, der er versprochen ist, ist es nicht. Mercedes, Georgette. Savoyen. Da ist das Gebirge, da ist der See, da ist das Wasser, da ist der Kahn, dessen Zeit zuende geht - Motorkahnzeitalter bricht an -, da ist das Lokal mit Mercedes, die Natur, die noch einmal alles auffährt an Poesie, was die Sprache nur für sie findet.

Ramuz entwirft aber Bilder, die nicht wie gemalt sind, sondern wie festgehalten mit einem dynamischer rahmenden, perspektivierenden Blick. Er hat, denkt man, Filme gesehen. Seine Sprache geht träumerisch dahin, ist nicht auf Unsichtbarkeit aus, durchwandert Berge und Täler wie das Lied, das in allen Dingen geschlafen hat und nun aufgewacht ist: ruhelos. Wiederholungen, als könnten sich Sätze vom einen zum nächsten vergessen. Ein Wurzelloser, ein Luftwandler ist dieser Joseph, von dem Ramuz erzählt, aber er ist alles andere als leicht, als schwerelos. Mörder auch, haltlos, kein Triebtäter, obwohl, was er tut, fast ohne seinen Willen geschieht: ein Dahintriebtäter vielleicht. Er geht durchs Gebirg, als wäre es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn kann.

Anderes geschieht, gut ist es nicht. Ein alter Mann, dem die eigene Tochter das Geld geklaut hat, hängt sich auf, hängt vier Tage am Strick, im Gebirge. Man schneidet ihn ab, Bäume hindern den Sturz in den Abgrund. Ein düsteres Buch, das der Zeit keinen Einhalt gebietet. Ein Buch, aus dem Finstres heraufmurmelt, in dem immer wieder einer sagt oder schreibt: Es war doch die Wirklichkeit. Es gibt das Leben, und das ist schön. Versicherungen, die sich den Boden, dessen sie sich versichern, im selben Atemzug wegziehen. Alles ändert, heißt es wieder und wieder in der ersten deutschen Übersetzung von Werner Johannes Guggenheim, alles ändert, das bekommt man kaum aus dem Ohr.

Donnerstag, 21. November 2013

1935: Georges Bernanos: Un crime (Frankreich)

"Mein Mißtrauen … ich finde leider kein anderes Wort … hat mir ermöglicht, eine ganze Anzahl anscheinend verwickelter Fälle aufzuklären … nur anscheinend verwickelt … und andere wieder hat es durcheinandergewirrt, manchmal dann unentwirrbar. In meiner Stellung ist Mißtrauen etwas Gutes, ja Ausgezeichnetes, solange es die Urteilskraft anregt, sie aber nicht beherrscht, es darf nicht in die Beurteilung eindringen. Die Gefahr besteht, daß der Mißtrauische schließlich seinem Mißtrauen mißtraut, und die nötige geistige Freiheit verliert." 

 ***

Tief in der Nacht erreicht der neue Pfarrer Mégère. Tiefe Provinz. Er hört einen Schuss, oder will ihn gehört haben. Auf einem Anwesen findet man die Leiche einer alten Frau, die viel in der Welt unterwegs war, seit Jahren aber hier ihren Ruhesitz hat. Im Garten liegt ein junger Mann ohne Socken, noch nicht ganz tot, Erde und einen Stein im Mund, er wird bald sterben. Ein Verbrechen, ein Rätsel, ein sehr eigenwilliger Untersuchungsrichter, einige weitere Figuren, die sich verdächtig verhalten: alle Zutaten für einen Landhauskrimi sind also vorhanden.

Ein Landhauskrimi ist "Un crime" aber nicht. Aber was dann? Mit einem vertrackten Kriminalnarrativ gepimptes Gewissensdrama? Landschaftsmalerei mit Figuren, die mit sich, ihrer Vergangenheit ringen und - mehr als einer von ihnen - keine Zukunft mehr sehen? Wo will das hin, worauf will es hinaus, warum die ausführlichen Schilderungen von Natur, Dorf, Charakteren? Eindringlich schildert Bernanos Gedanken, Not einzelner Figuren, er differenziert sie weit aus bloßer Typisierung hinaus. Dann lässt er sie ziehen.

Ein Roman ohne Fokus, oder anders: Der Fokus wandert, immer wieder einzelne Szenen von äußerster Brennschärfe, dann geht der Blick anderswohin. Die Erzählung zielt (oder täuscht) Aufklärung an, verliert sie dann aus den Augen. Dem irrenden Blick kommen die Utensilien des Rätselkrimis im weiteren Verlauf  als präzise geschilderte Objekte und Knoten durchaus dazwischen. Briefe werden verbrannt, Geständnisse werden geschrieben, Raumverhältnisse vor Augen geführt, eine Fotografie, Vergangenheit, die in die Gegenwart drängt, Andeutungen des Pfarrers in unklarer Rede. Überhaupt der Pfarrer: Eigentlich Protagonist, dann aber weg. Als Charakter ein Rätsel, das nicht aufgelöst wird. Wie der ganze Roman, der nicht weiß, was er ist. Oder falls er es weiß: Ich weiß es nicht.

Montag, 18. November 2013

1934: Robert Graves: I, Claudius (Großbritannien)

Ten years, fifty days and three, 
Clau - Clau - Clau shall given be 
A gift that all desire but he.

To a fawning fellowship 
He shall stammer, cluck, and trip, 
Dribbling always with his lip.

But when he's dumb and no more here, 
Nineteen hundred years or near, 
Clau - Clau - Claudius shall speak clear. 

 ***

Live aus Rom: Tiberius Claudius Nero Germanicus. Der zukünftige Kaiser (und Gott) schreibt auf, wie es war. Dass er einmal Nachfolger Caligulas würde, hätte keiner gedacht, und einer hat es auch wirklich nicht gewollt, nämlich er selbst: Ich, Claudius, Stotterer, Bücherwurm, Verfasser von vielbändigen Schwarten zur etruskischen und römischen Geschichte (alle verloren, leider), einer, den man lieber versteckt als öffentlich vorzeigt. Es kam aber so, heimlich verfasst er diese Biografie und früh wird geweissagt, dass sie Jahrhunderte später das Licht der Welt erblicken wird. Und es geschah: Robert Graves verkündet das Kommen des Buchs, das er schreibt, im Buch, das er schreibt.

Nicht erst hier wird klar, wie wenig er um eine plausible Rekonstruktion der historischen Zeit bemüht ist. "I, Claudius" ist sowas von 1934 nach Christus. Ziemlich tongue-in-cheek in seiner runtergekochten Liebe zum Gossip. Die blutige Historie der frühen Kaiserzeit - nicht als Tragödie, sondern als Intrige und Farce. Eher aus dem Geist der bösartigen Apokolokyntosis (Verkürbissung), die Seneca nach Claudius' Tod auf ihn anonym schrieb, nicht des öffentlich vorgetragenen rühmenden Nachrufs, den Seneca unter seinem eigenen Namen verfasst hat: "Das letzte Wort, das ich unter Menschen von ihm hörte, nachdem er mehr Lärm mit dem Organ gemacht hatte, durch das ihn das Reden leichter ankam, war folgendes: 'Weh' mir, ich glaube, ich habe mich beschissen!' - Ob er das gemacht hat, weiß ich nicht; so viel ist gewiss, beschissen hat er alles."

Graves, der sich auskennt, klittert die Geschichte mit Freude. Eine vor allem hat er dabei im Visier: Livia, des Augustus dritte Ehefrau, Claudius' Großmutter. Von den Untaten, die Graves berichtet, schweigen die historischen Dokumente. Bei ihm ist Livia eine Giftmörderin vor dem Herrn, an manch aufrechten Römers Busen genährte Schlange, schlau, listig, skrupellos, weiß, was sie tut. Ist dabei gar nicht verrückt, anders als Caligula, dessen Wahn Graves auskostet, aber nicht über die Maßen. "I, Claudius" schlägt nämlich hier wie sonst nicht über die Stränge, ist überhaupt in seiner fröhlich-geistreichen middle-of-the-road-Geschichtsfabuliererei weitaus weniger römisch als britisch. Wer einmal römische Kaiserbiografien gelesen hat, wird da nicht unglücklich sein.

Donnerstag, 14. November 2013

1933: Ignazio Silone: Fontamara (Italien)

"Man muß es wiederholen. Wenn man es nicht wiederholt, hat der Titel keinen Sinnen. Dann soll man ihn lieber fortlassen. Was tun? muss in jedem Artikel vorkommen. 'Man hat uns das Wasser gsetohen, was tun?' Versteht ihr? 'Der Priester weigert sich unsere Toten zu bestatten, was tun?' 'Im Namen des Gesetzes werden unsere Frauen vergewaltigt, was tun?' 'Don Circonstanza ist ein abgefeimter Schurke, was tun?'" Jetzt begriffen alle, was er meinte, und stimmten ihm zu. 

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 Was tun? Das ist schon die Antwort. Und zwar auf die Frage der Cafoni von Fontamara, wie sie ihre Zeitung nennen sollen: Wahrheit? Recht? Aber die Wahrheit kennt keiner, das Recht ist immer schon gegen sie. Also hat einer von ihnen Lenins Idee einer Antwort, die keine ist, dieser Antwort, die Fontamara zerstört, einer Antwort, die dann auch das letzte Wort des Romans ist: Was tun?

Fontamara ist zu Beginn, Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Dorf in den Abruzzen, in dem die Zeit stillsteht. Lange schon. Die Bewohner kommen, geknechtet, von den Städtern verachtet, von den Behörden mit Steuern gedrückt, gerade so durch. Sie können lesen und schreiben, aber nicht alle. Die Regeln, nach denen sie leben, sind fest gefügt. Es kommt aber eine neue Zeit, was sie bringt, ist nicht gut: Mit fadenscheinigem Grund gräbt man dem Dorf das Wasser ab. Der Unternehmer ist ein skrupelloser Betrüger. Widerstand wird niederkartätscht.

Die neue Zeit, die Bewegung in die Wirtschaftskreisläufe bringt und die Tradition, das Dorf und die Menschen darin dadurch zerstört: Das ist der Faschismus. Ignazio Silone erzählt in "Fontamara" von seinem Aufstieg in der Peripherie. Er schickt zwei seiner Figuren von Fontamara nach Rom, wo ein Kommunist um sie wirbt. Glück bringt der Widerstand, der daraus erwächst, nicht. Das Schöne am Roman: Er bleibt äußerst konkret. Und er bleibt der Perspektive der Cafoni verhaftet. Ein Mann, seine Frau, dann der Sohn sind die Erzähler. Das weitere erzählt meine Frau, heißt es dann. Und nun mein Mann. Das ist von innen erzählt. Von außen kommen hier keine narrativen Instanzen, nur die politischen Aktivisten. Und von Fontamara bleibt nichts. Außer: Was tun?

Dienstag, 12. November 2013

1932: Jan Jacob Slauerhoff: Het verboden rijk (Niederlande)

If one could evoke death as easily as love by thinking of it, then every night many would go to bed and never rise again. But the body is too powerful: at the slightest movement, the grasping of a gun, the pouring of a few drops into a glass, it rebels and asserts its sluggishness and its attachment to the earth, perhaps most of all when grievously ill. 

 ***

Der Prolog verspricht - indem er gar nichts verspricht, sondern ansatzlos aus dem 16. Jahrhundert erzählt - einen historischen Roman lakonischer, aber darum nicht weniger konventioneller Machart. Aus dieser Spur wird das Buch durchaus geraten, aber Slauerhoff hat keine Eile damit, nimmt nach der Macao-Gründungsgeschichte des Anfangs einen anderen, nicht minder historischen Faden in aller Ruhe erst einmal auf. Erzählt wird vom Schriftsteller Camoes in Portugal, der die Frau liebt, die der Thronfolger heiraten soll. Wie kann das gut ausgehen? Gar nicht. Vielmehr sticht der Roman in See und rettet seinem Dichterhelden so erst einmal, wenn auch nur gerade so, die Haut.

Später, ziemlich viel später, und ohne jede weitere Erklärung, taucht dann ein anderer auf, sagt "ich" und erzählt. Eine Überblendung, der man fast wie im Traumzustand folgt. Man liest und verzichtet darauf, sich einen Reim zu machen, weil auch der Roman sich und uns keinen macht. Zwei Männer treiben also in der Geschichte, durch Geschichten. 16. Jahrhundert und Gegenwart des Erzählers. Widerfahrnisse und Fährnisse hier und da, Camoes wird auf dem Schiff eingesperrt, erkrankt, überlebt knapp, wird ans Land gespült, trifft dort auf eine Frau, die vor ihrer Verheiratung an den Falschen aus Macao in die Natur floh. Motive, die sich überlagern, in Räumen, Zeiten, Figuren. Ich und Er und als Dritter im Bunde der Leser, der ohne aufzubegehren durch seinen Lektürefiebertraum gleitet.

Dabei liest es sich zunächst, wie gesagt, wie eine historische Abenteuererzählung. Tut nicht modern. Auch surreal ist eigentlich nichts. Leise nur ergeben sich Irritationen. Etwas verschiebt sich, man sieht ein zweites Mal hin, weil die Täuschung vielleicht bei dir selbst lag. Nein, da war ein Sprung. Da ist ein Sprung in der Wirklichkeit. Ein Doppelbild: die eine Frau, die andere Frau. Portugal, Macao, die See. Eine Art See, auf der man treibt, eben war da doch noch das Festland, nun bist du in der Hand eines radikal uferverweigernden Autors. Und fühlst dich prima dabei. Entweder: Stockholm-Syndrom. Oder: Verdammt kluges Buch.

Freitag, 8. November 2013

1931: Detection Club: The Floating Admiral (Großbritannien)

As yet, the whole thing was a mystery.

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Tatsache: Ein Admiral treibt im Wasser. Er ist tot. In einem Boot auf einem englischen Fluss nahe der Mündung ins Meer. Darum hat der Fluss Ebbe und Flut und das Vor und Zurück des Bootes wegen Tidenhub gehört zu den Faktoren, die der Ermittler bei seinem Rätsellösungs- bzw. Mordaufklärungsversuch berücksichtigen muss. Ein bisschen ist das Vor und Zurück auch allegorisch. Neun Autorinnen und Autoren hat dieser Roman, jeder hat ein Kapitel verfasst, in dem er oder sie Rätsel aufgibt, die der Nachfolger fortspinnen und der letzte (Anthony Berkeley) auflösen muss. Kriminalliteratur als Gesellschaftsspiel also, die Teilnehmer sind heute noch sehr (Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Gilbert Keith Chesterton), halbwegs (Freeman Wills Crofts) oder kaum noch (Canon Victor L. Whitechurch, Milward Kennedy) bekannt.

tilistisch fällt die Uneinheitlichkeit der Autorschaft fast nicht auf. Das spricht womöglich für den Roman und womöglich gegen seine Verfasser. Gebrauchsprosa ohne besondere Kennzeichen. Auch sonst eher Krimi nach Landhausrezept. Verdächtige werden durchs Bild geschoben, Indizien und rote Heringe auffällig unauffällig verräumt. Eine Vorgeschichte führt nach Hongkong (worauf sich Chesterton in seinem gewohnt listigen Vorwort bezieht). Uhrzeiten, Alibis, Bewegungen, Verkleidungen, alles drin, alles dran. Trotzdem: Als Kriminalroman ist der im Wasser treibende Admiral eher läppisch.

Als Erzählexperiment aber interessant. Cadavre exquis, buchstäblich. Man spürt den Kampf jedes einzelnen um die Kontrolle des Textes, gerade im Bemühen, diesen Kampf nicht spürbar werden zu lassen. Die Genreklischees verdecken die Unruhe in einem Text, der nie weiß, wie er gemeint war oder gewesen sein wird. Etwas wird mit Intention hineingetan, das die Weitererzählerin ignoriert. Leser, die zu Autoren werden, geben den Autoren, die Leser werden, Rätsel auf. Und für den außenstehenden Leser wird nicht die Erzählung, sondern das Erzählen zum Schauplatz loser Intentionalitäten. Leider wird am Schluss ganz aufgeräumt, nicht nur im letzten Kapitel. Jeder einzelne musste eine Lösung verfassen, für den Zeitpunkt, da er seine Erzählung an den nächsten weitergab. (Bis auf die ersten: Da fehlt noch Stoff.) Dorothy Sayers macht daraus einen halben Roman. Rätselkrimi heißt Aufräumwahn.

Montag, 4. November 2013

1930: Lion Feuchtwanger: Erfolg (Deutschland)

Kunstprestige! Der Staat, dem er diente, war ein Agrarstaat. Die Stadt München, mitten in diesem Staat gelegen, war ihrer Struktur und ihrer Bevölkerung nach eine Siedlung mit stark bäuerlichem Einschlag. Das sollten seine Kollegen gefälligst bedenken. 

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Ein Zeitroman, der künstlich Abstand schafft und diesen in der Besessenheit, mit der er am Stoff seiner Welt hängt, im selben Moment auf Null reduziert. Die Distanz, artifiziell: Die Fiktion, dass der Erzähler aus hundert Jahren ungefähr Abstand auf eine Vergangenheit blickt, die unter diesem Blick ameisenhaft geschäftig und fremd wird. Das Jahr 1923, München. Auf Aberhunderte Seiten vergrößert, en detail und en gros, kein Ameisenhaufen, sondern ein Typenzoo, jedes Tier ein Prachtexemplar seiner Art, wenngleich mit sehr viel mehr Hass als Liebe gemalt. Kein raunendes Beschwören in Vergangenheitsform, sondern ein fortgesetztes Voraugenstellen, Ganzdichtranzoomen, Amkragenpacken und in seiner ganzen faszinierenden Verschlagenheit Vorführen. Der Kern, Glutkern vielleicht: Das Krüger-Schicksal. Ein Mann, der als Museumsdirektor der Moderne zugetan ist. Darum muss er weg. Im Prozess wird er nach Meineid des Zeugen abgeurteilt, ins Gefängnis gesteckt. Um ihn, diesen Fall, diesen Skandal, der für so gut wie niemanden einer ist, entwirft Feuchtwanger sein Panorama.

Rundum geht der Blick. Fällt auf den Anwalt, eine unselige Kreatur, die aus dem Münchner Biotop herauswill, an einem unehelichen Sohn aufs Erbärmlichste hängt, und der zwar aus München herauskommt, aber sein inneres München nicht loswird; fällt auf den Keramikfabrikanten, der sein bisschen Mut zusammennimmt und wieder verliert; auf den Großunternehmer, der im Hintergrund die Fäden zieht, sicher aber nie irgendwo festlegt; auf Rupert Kutzner, ein deutlich erkennbares Abbild von Adolf Hitler, der den Aufstand probt und jämmerlich scheitert, aber der als die Schlägertype, nach der sich das ehrbare München sehnt, doch im Spiel bleibt; fällt auf den Großschriftsteller Jacques Tüverlin, in dem Feuchtwanger ein wenig sich, ein wenig auch Thomas Mann als Narzissfigur entwirft, und fällt auf den Komiker, dessen Eigensinn windelweich ist, ein wenig freundliches Valentin-Porträt.

Und so weiter im Rund, liebenswert keiner, oder nur eine: Johanna Krain, die Frau, die nicht auf einen Mann festgelegt ist, aber dem einstigen Geliebten Martin Krüger im Knast treu bleibt; ihn heiratet, dann aber den Schriftsteller Tüverlin liebt. Sie ist die einzige, die mit einer nicht immer erklärlichen Leidenschaft an der Gerechtigkeit hängt. Oder ihrer Idee, vielmehr dem Gefühl, das sie für diese Gerechtigkeit hat. Eine wie sie richtet die Dinge in einer Welt, die ganz aus dem Lot ist, sicher nicht ein. Das glaubt auch Feuchtwanger nicht, der an dieser Figur hängt wie diese am verratenen Krüger. Aber wie sie sich verbeißt, so verbeißt er sich. Nicht nur in sie, sondern in alle, das ganze Geschwerl, mit dem wohl ein bayerischer Staat, aber keine lebenswerte Gesellschaft, keine Demokratie und schon gar keine bessere Welt zu machen ist. Hier ist das Ganze das Falsche mit Johanna Krains Zorn der Gerechten darin. München hat Feuchtwanger gehasst für dieses gnadenlose Porträt. Zurecht. Er führt die Mechanismen eines Zynismus vor, dem er nicht eine Spur Utopisches entgegenzusetzen hat - auch nicht in der Brechtfigur des kommunistischen Kaspar Pröckl. Aber gerade der Verzicht auf eine positive Gegenvision lässt dann auch den Zynikern keine Ausrede übrig, weil umso deutlicher wird: Es muss nicht so sein, wie es ist; und alles ist besser als eine solche Gesellschaft.

 Fast alles: Kutzner wird die Festung rasch wieder verlassen.

Dienstag, 29. Oktober 2013

1929: Philipp Soupault: Le grand homme (Frankreich)

Er wollte die Töne, die Düfte, sogar die Farben verjagen, all diese zahllosen Einzelheiten, die Erinnerungen wachrufen. Er fuhr schnell, glücklich, die Gefahr so nahe zu spüren. Weder Hunger noch Müdigkeit ließen ihn halten. Im Gesang des Motors, in der monotonen und rasenden Flucht der Landschaften fand er eine Freude, die ihn so erregte, daß er immer schneller vorwärts jagte. Die Stunden lösten sich im Staub und Lärm auf.

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Ein Roman, der auf der Höhe, ja auf dem Wellenkamm seiner Gegenwart nicht nur spielt, sondern verfasst ist. Surrealistisch nicht, weil er die Wirklichkeit hinter sich lässt, sondern weil er sie in Tempo und Figurenzeichnung zuspitzt und forciert. Dabei fast ein Schlüsselroman. Der große Mann, der hier Lucien Gavard heißt, war jedem, auch ihm, als Autofabrikant Louis Renault mühelos zu erkennen, zudem der Onkel Soupaults. Mit den Schritten eines Riesen erzählt der Roman von Emanzipation, Erfindergeist, Tatkraft und Aufstieg des Mannes, der sich den Erfolg einfach nimmt. Und auch die Frau, eine Schönheit, die den großen Mann sicher nicht liebt, aber kühl und kalt das Geld, das Leben der Reichen, die Partys und vielleicht auch den Ennui und das Leiden daran nicht sucht, aber will. Der Wille tritt hier allerdings auf als eine quasi-objektive Kraft, die mit Individualität nichts zu tun hat.

Ebenfalls auftritt, als Klischee einer anderen Kraft, der schwarze Tenor Putnam. Er verdreht mit seiner Stimme, seiner Eleganz und dem Tierhaften, das die Gesellschaft ihm als Schwarzen mit Lust unterstellt, tout Paris den Kopf. Auch die Frau des großen Mannes lässt er nicht kalt; oder jedenfalls schüttelt er die Eiswürfel, aus denen ihre Gefühle bestehen, ein wenig zurecht. Ein vor und zurück, ein Hin und Her: Bewegung im kubistischen Kräftefeldraum dieses Romans. Dessen Erzähler übrigens sagt zwar gelegentlich ich, erhält aber keine Kontur als Person.

Alles ist hier nur Zug, Vektor, ein Roman in Szene und Umschwung. Als animal triste kehrt der große Unternehmer von einer US-Reise zurück: Gegen den amerikanischen Autokapitalismus ist sein französisches Reich doch sehr alte Welt. Wie vermutlich auch die Frage danach, ob das aus einer kritischen, satirischen oder überhaupt identifizierbaren Haltung erzählt ist: All dies nicht, dabei sehr wohl böse, aber durch die Mimesis ans Kraftfeld des Erzählten in dieses sozusagen hineinobjektiviert.

Dienstag, 22. Oktober 2013

1928: William Somerset Maugham: Ashenden (Großbritannien)


For Mr. Harrington was a talker. He talked as though it were a natural function of the human being, automatically, as men breathe or digest their food; he talked not because he had something to say, but because he could not help himself, in a high-pitched, nasal voice, without inflection, at one dead level of tone. He talked with precision, using a copious vocabulary and forming his sentences with deliberation; he never used a short word when a longer one would do; he never paused. He went on and on. It was not a torrent, for there was nothing impetuous about it, it was like a stream of lava pouring irresistibly down the side of a volcano.


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Bücher, die mit einer Poetik beginnen, sind erst mal verdächtig: Verteidigungshaltung. William Somerset Maugham schreibt vor, gibt Präskription und Rezept fürs Verfassen guter Fiktionen. Eine Geschichte hat Anfang, Mitte, Ende zu haben, und zwar - Anti-Godard - in genau dieser Reihenfolge. Alles andere ist Wirklichkeit, Durcheinander, keine Literatur. Klingt nach Avantgardeverachtung und ist es auch. Was setzt Maugham hier unter Rechtfertigungsdruck? Simpel: Er erzählt aus seinem Leben. Das aufregend klingt: die Jahre als Geheimagent während des Krieges. Was, versichert er, nur sehr stellenweise aufregend war: im Alltag ereignislos, monoton. Diese Monotonie will er nicht erzählen, erzählte Monotonie ist keine Literatur. Literatur ist Rettung des langweiligen Alltags in komponierte Fiktion. So sieht es aus.

Ashenden ist keine Memoirenliteratur, den Bruchstücken aus dem Realen zum Trotz. Übrigens auch kein Roman, streng genommen, sondern eine Reihe von Erzählungen aus dem Leben des Titelhelden, den Maugham - Dienst ist Dienst und Fiktion ist Fiktion - in die dritte Person überführt. Und er tut das äußerst gekonnt. Einseitige Poetiken sind ein Problem, eine einseitige Begabung, die ihre Einseitigkeit poetologisch verschleiert, ist keines. Somerset Maugham kann nämlich erzählen. Seine Geschichten haben Anfang, Mitte und Schluss, in dieser Reihenfolge. Am Ende gerne eine Pointe. Mal tödlich, mal todtraurig, mal in ihrer Bösartigkeit beinahe komisch. Der mit viel Aufwand vom haarlosen Mexikaner getötete Mann war zum Beispiel der falsche. (Kein Wunder, dass Hitchcock da für seinen "Secret Agent" zugriff.) Dann gibt es eine Liebesgeschichte, die schön umwegig davon erzählt, wie einer auf das richtige Leben aus schlechten Gründen verzichtet. Das ist auch die Geschichte, die sich als das Rohmaterial für die Erzählung gibt, die sie ist. Was fast postmodern klingt. So meint Somerset Maugham das nicht. Gutes Erzählen hat außerdem seinen Preis: Den Mangel an Monotonie merkt man den Erzählungen manchmal als Anstrengung an. Trotzdem: Das sind tolle Mensch-im-Zwiespalt-Geschichten.

Freitag, 18. Oktober 2013

1927: François Mauriac: Thérèse Desqueyroux (Frankreich)

Argelouse is truly a land's end, one of those places beyond which there's nowhere to go. Less than a village, it is what people in this region call a quartier; it is a hamlet with a few tenanted farms scattered around a rye field, without a church or town hall or even cemetery, ten kilometers from the village of Saint-Clair, to which it's connected by a single dirt road.

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Sie kommt aus dem Gericht, von Anwalt und Vater gerahmt, sie ist frei. Thérèse Desqueyroux hat einen Anschlag aufs Leben ihres Ehemanns unternommen, an ihrer Schuld lässt ihr innerer Monolog keinen Zweifel, aber vor den Augen des Gesetzes ist sie unschuldig. Bernard, ihr Ehemann, der genau weiß, dass ihm Thérèse nach dem Leben getrachtet hat, befreit sie mit einer Falschaussage von jedem Verdacht. Nicht aus Liebe, gewiss nicht. Und in Wahrheit ist Thérèse alles andere als frei, das wird immer klarer, je näher sie auf der Fahrt vom Gericht zurück ans Ende der Welt dem sie erwartenden Ehemann kommt. Innere und äußere Landschaften ziehen vorbei, in genauer, lakonisch poetischer Sprache, die auf symbolisches Ineinanderspiegeln von Seele und Natur verzichtet.

Argelouse, das ist das Ende der Welt. Der prosaische, jagdbegeisterte Mann, dem Ehre und Ansehen über alles gehen - er ist für Thérèse gerade in seinem vollkommenen Mangel an Dämonie die reine Hölle. Mauriac leiht, oder schenkt, ihr seinen subtilen Blick, seine zarten Seelenregungen, seine Verzweiflung. So sehr, dass man als Leser selbst Gift mischen möchte. Und dann sperrt Bernard sie ein, in Argelouse, im Haus, mad woman in the Obergeschoss, Thérèse, die nicht schön ist, aber Charme hat und die sich diese Rückkehr ganz anders ausgemalt hat: "How completely we can reshape the people we know as soon as they're not close by!"

Thérèse kann Bernard nicht umträumen, und er räumt sie einfach weg. Sie soll festgefroren werden, sozial, aber auch ganz konkret: im Haus, in Argelouse. Solange bis man sie ohne Schaden loswerden kann. Als das geht (Bernards Schwester ist, noch ein Unglück, unter der Haube), wird er sie los. Nach Paris, aus den Augen, aus dem Sinn. Das hätte man dann doch nicht zu hoffen gewagt: Eine offene Zukunft als unter diesen Umständen mehr als glückliches Ende.

Montag, 14. Oktober 2013

1926: Vladimir Nabokov: Mashenka (Russland/Exil)

As he walked he thought how his shade would wander from city to city, from screen to screen, how he would never know what sort of people would see it or how long it would roam round the world. And when he went to bed and listened to the trains passing through that cheerless house in which lived seven Russian lost shades, the whole of life seemed like a piece of film-making where heedless extras knew nothing of the picture in which they were taking part.

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Die Zimmer der kleinen Pension in Berlin sind nach den ersten Tagen des April durchnummeriert. Es wohnen hier unter der Hut der russischen Wirtin ausschließlich Sowjetexilanten. Zwei schwule Tänzer darunter, eine junge Frau, aber vor allem: zwei Männer, die eine andere, aber abwesende Frau verbindet. Die beiden, Lev Glebovich Ganin und Aleksey Ivanovich Alfyorov, sitzen zu Beginn des Romans miteinander im stehengebliebenen Aufzug im Dunkeln. Da ahnt aber Ganin noch nichts von Alfyorovs Ehe mit Mary, der Frau, die er, Ganin, in seiner Jugend in Russland einst liebte. Das Aufzugdrama ist schnell vorbei, später sieht Ganin ein Foto, erkennt - und erfährt, dass Alfyorov in wenigen Tagen Marys Ankunft erwartet.

In diesen Tagen vor dem Advent spielt der Roman. Ganin plant die Flucht mit der Frau, von der er wie selbstverständlich erwartet, dass sie nach wie vor ihn und keinen anderen liebt. (Es ging auseinander, aber man schrieb sich noch Briefe, zunächst.) Es ist in erster Linie ein Roman über die Durchdringung. Zunächst und naheliegender Weise der Durchdringung der Gegenwart des Exils mit der Erinnerung an die verlorene Heimat. Kapitellang sind diese gewiss nostalgischen, aber durch die Jugendliebe, um die es geht, auch ganz frischen Reminiszenzen. (Eine autobiografische Fiktion, der Nabokov selbst im Vorwort zur Übersetzung seine von Fiktionen nicht freie Autobiografie "Sprich, Erinnerung, sprich" zur Seite stellt.)

Halb expressionistisch, halb aber schöne Allegorie der nicht ganz dichten Wände zwischen Räumen und Zeiten sind auch wiederkehrende Fantasien - des Erzählers -, der die S-Bahn statt auf den Gleisen daneben fast widerstandslos durch das Haus selbst gleiten spürt und sieht. Ein leichtes Zittern, ein Gespenstisch- und Durchsichtigwerden. Ein großartiges Bild für die Existenz im Exil. Den alten Dichter, der sich nach Paris sehnt, aber in Berlin sterben muss, hätte es da fast nicht auch noch gebraucht.

Montag, 7. Oktober 2013

1925: Willa Cather: The Professor's House (USA)

The Mesa was our only neighbour, and the closer we got to it, the more tantalizing it was. It was no longer a blue, featureless lump, as it had been from a distance. Its sky-line was like the profile of a big beast lying down; the head to the north, higher than the flanks around which the river curved.
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Das Haus des Professors: Eigentlich sind es zwei. Das alte Haus, in dem er mit der Familie gelebt, in dem er vor allem aber im Zimmer der Näherin unterm Dach sein Werk geschrieben hat. Acht Bände, Spanish Adventures in North America. Die sind fertig, die Töchter sind unter der Haube, gegen die Schwiegersöhne hat Professor Godfrey St. Peter, auch wenn sie ihn nicht weiter interessieren, nicht viel. Das erste Großkapitel von dreien, "The Family", zeichnet das Bild des Professors im Kreise der Lieben in einem Moment des heftigen Umbruchs: Er hat ein neues Haus gekauft und stellt fest, dass er aus dem alten nicht raus will. Eine totale Entfremdungserfahrung: Die Frau, die Kinder, das ganze eigene Leben, an dem er seit Jahren gebaut hat - nicht länger seins, er ist müde, er bleibt im alten Haus, unterm Dach.

Im dritten Großkapitel, "The Professor", zeichnet Cather die Groß- und Detailaufnahme des Professors. Die Familie ist in Europa, Godfrey St. Peter ergibt sich einem melancholischen Nichtstun und Dasein zum frühen Tode. All das wäre (nicht mehr als) gutbürgerliche Endzeitstimmungsmalerei mit gegenwartskritischen Elementen, wäre da nicht das mittlere Drittel, das Kapitel "Tom Outland's Story". Tom Outland ist in den Rahmenkapiteln nicht mehr am Leben. Er ging in den Krieg und kehrte nicht mehr zurück. Ein junger Mann, ein Genie irgendwie, das eine Erfindung zurückließ, die die eine Tochter St. Peters, einst Outlands Verlobte, und ihr Gatte zu Geld gemacht haben. Auch sie bauen ein Haus, nennen es "Outland" (eine Domestizierung, wenn es je eine gab), das Häuserbauen ist wirklich ein bisschen dick allegorisch präsent in diesem Roman, wie überhaupt manche Parallel- und Oppositionsbildungen im Erzählbau sich der Deutung arg eifrig aufdrängen.

Wie aber das Mittelkapitel etwas ganz Anderes ins schöne Neuengland hineinragen und aus dem bürgerlichen Roman herausragen lässt, hat seinen Reiz. Erzählt wird Tom Outlands Vorgeschichte, erzählt wird, wie er ein in steile Felsen gehauenes Indianerdorf entdeckte und dort eine ganze Weile verbrachte. Das Kapitel sucht den Bruch, auch indem es sich dem Abenteuerromangenre stark anschmiegt. Und auf die Existenzerschütterungsfunktion, die es in der Professorlebensbeschreibung besitzt, lässt es sich nicht festnageln. Das rumort im Erzählleib wie im Geist des Professors weiter.

Dienstag, 1. Oktober 2013

1924: Dezső Kosztolányi: Pacsirta (Lerche; Ungarn)


His skin had crumpled like paper, and his face was as white as chalk. The extra weight he had put on at the King of Hungary over the last few days had vanished, together with the genial, ruddy glow on his face. Once again he was gaunt, sickly and pale, just as he had been when his daughter had departed.

***

Für eine Woche ist die Tochter, um die das Leben ihrer Eltern kreist, aus dem Haus. Ihr Kosename ist "Lerche", sie fährt aufs Land und schreibt, so hat man es von ihr verlangt, ein Telegramm nach ihrer glücklichen Ankunft. Ganz jung ist die Tochter nicht mehr, 35, erfährt man viel später; alt sind die Eltern, oder fühlen sich so. Ihr Leben ist geregelt, und zwar in der Weise, dass außerhalb des engen häuslichen Kreises wenig geschieht. In der Abwesenheit der Tochter aber geraten die Dinge aus dieser Ordnung. Sie geraten in eine Unordnung, in der die Eltern nicht recht wissen, wie ihnen geschieht. Zum Beispiel gehen sie essen, dort treffen sie Menschen, sie gehen ins Theater, eigentlich wollen sie nicht, aber sehr stark ist ihr Wille nicht. Die Tochter fehlt. Und ihr Fehlen befreit. Dass sie das ahnen, trübt den Genuss.

Akos Vajkay und seine Frau leben in der Provinz. Das Jahr ist 1899. Es gibt die Zeitung, das Theater, Promiskuität (die Frau des Richters), es gibt den jungen aufstrebenden Journalisten. Zwar stellt Dezsö Kostolanyi die Familie Vajkay ins Zentrum, Akos vor allem, aber unter der Hand macht er mit vielen anderen reputierlichen und nicht so reputierlichen Mitgliedern der kleinen Gesellschaft bekannt. Nach langen Jahren geht Akos am Donnerstag wieder in den Club, den er einst regelmäßig frequentierte. Man spielt Karten, man besäuft sich, nachts um drei kehrt der Mann heim zur Frau und beide betrachten sie da ihr Leben und die Tochter im nüchternsten Licht: Sie ist hässlich, sie wird nie einen Mann finden.

Dann kehrt sie heim. Der Zug hat Verspätung, die Eltern malen sich auf dem Bahnhof Katastrophen aus. Aber Katastrophen wären das geringste Problem. Die Tochter steigt aus, das Leben geht weiter, wie früher. Die Auszeit ist vorüber, ein kleiner Karneval, in dem die Dinge nicht auf den Kopf gestellt worden, nur ein wenig verrutscht sind. Schön war es auf dem Land, sagt die Tochter. Sie lügt. Alles in bester Ordnung, sagen die Eltern. Sie lügen, und sie wissen jetzt auch, dass sie es tun. In der Zeitung steht ein Gedicht. Die Tochter schluchzt, aber sie drückt ihr Gesicht ins Kissen. So hört man das Schluchzen nicht.

Mittwoch, 25. September 2013

1923: Raymond Radiguet: Le diable au corps (Frankreich)


After so much outrageous behaviour, I didn't realize that this night of the hotels was a turning point. But if I imagined that it was possible to stumble through life in this way, then Marthe sitting in the corner of the carriage on our return journey, exhausted, devastated, teeth chattering, understood everything. Perhaps, in a speeding railway carriage, she even saw that at the end of this mad year of ours, it could only end in death.

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Es gibt eine Figur - sie trägt, anders als der Erzähler, einen Namen: Jacques -, die am Rand des Romans immer präsent bleibt, dessen Welt aber nicht leibhaftig betritt. Vor allem aber findet alles, was sich an Skandalösem ereignet, für Jacques, den es zuinnerst betrifft, gar nicht statt. Seine Frau, Marthe, betrügt ihn mit einem Gymnasiasten, dem Erzähler, während Jacques an der Front in Lebensgefahr ist. Sie tut das aber in einer anderen Raum- und Zeit-Zone. Diese ist es, die Raymond Radiguet in diesem Buch etabliert. Es ist der Raum einer emphatischen Liebesgemeinschaft, die sich um die Reaktionen und Meinungen der näheren und ferneren Mitwelt nicht schert.

Auch nicht um die Meinung des Lesers. Den holt der Erzähler, ohne sich je seines Verständnisses oder gar der moralischen Zustimmung zu versichern, ins Boot. Die komplizierten und vollständig narzisstischen Überlegungen, die ihn antreiben, und die immer schon eher Verwicklungen des Begehrens sind als dessen simpler konventioneller Ausdruck (bis hin zum zeitweisen Desinteresse an Marthe), teilt dieser Erzähler in kühner Naivität mit. Er versichert sich nicht, nicht in seinen Handlungen, nicht in der Beschreibung seiner Innenwelt, die sich in der von der Außenwelt scharf gesonderten Paarliebeswelt gesondert noch einmal öffnet. Kürzer gesagt: Le diable au corps ist ein Roman der Asozialität.

Ein einziges Mal sieht - und hört - der Erzähler Jacques, den Rivalen (es ist aber die Frage, ob man ihn auf diesen traditionellen Begriff bringen kann). Da aber exisitert die Welt außerhalb der Ordnung nicht mehr, in der die Liebe zu Marthe ihren Raum und ihre Zeit hatte. "Ich begriff, dass sich zuletzt die Ordnung um uns herum wieder herstellt." Sagt der Erzähler, der diese Ordnung in diesem letzten Kapitel, in dem Moment, in dem er diese fast letzten Worte schreibt, so brutal wie pervers reetabliert hat. Marthe ist tot, Jacques nimmt das Kind, das der Affäre entsprang und das den Namen des Erzählers trägt, als falsche Frucht seiner eigenen Ehe an. Man kann Ordnung dazu sagen, aber alles an ihren Voraussetzungen ist Betrug. Was natürlich nicht heißt, dass sie sich nicht leben ließe. Ganz im Gegenteil.

Freitag, 20. September 2013

1922: Karel Capek: Továrna no absoluto (Tschechien)


This name which Marek gave to his atomic boiler is, of course, quite incorrect, and is one of the melancholy results of the ignorance of Latin among technicians. A more exact term would have been Komburator, Atomic Kettle, Karbowatt, Disintegrator, Motor M, Bondymover, Hylergon, Molecular Disintegration Dynamo, E.W., and other designations which were later proposed. It was, of course, the bad one that was generally adopted.

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Einem genialen Erfinder ist es gelungen, die Kraft der Atome zu nutzen. Materie wird bei der so möglichen Herstellung von Energie restlos verbraucht. Restlos, und auch wieder nicht. Statt wirklich gar nichts bleibt etwas anderes übrige: das Absolutum. Es wird, zuvor in Materie gebunden, befreit. Die Folgen sind verheerend, wie man sich vorstellen kann. Wer in die Nähe eines der handlichen Atomreaktoren ("Karburatoren") gerät, beginnt in Stimmen zu sprechen, der Levitation zu frönen, Sekten zu formen, Hallelujah zu singen, kurz: wird religiös. Um einen bestimmten Gott oder Glauben geht es dabei nicht, alles kommt recht, was den klaren Blick auf die Realitäten transzendent trübt.

Schöne Idee. Und hier und da malt Karel Capek das bis recht weit ins Absurde hinein auch schön aus. Es endet in Glaubenskriegen mit mehr oder minder vollständiger Auslöschung der Menschheit. So weit, so apokalyptisch. Die Figuren - der Erfinder, der Fabrikant, ein Karussellbesitzer, der abhebt - bleiben Chiffren. Einen wirklichen Plot gibt es nicht. Die Satire findet keinen einheitlichen Ton. Mal schrill, mal zurückhaltend. Mal geht es um Mikrokritik, dann geht die Welt unter. Ein Abflug aus der Satire ins Fantastische als Produktion einer überzeugenden eigenen Welt findet nicht statt, ist wohl auch nicht intendiert. Da man den religionskritischen Punkt und die Steigerungslogik schnell begreift; da aber uninteressante Ereignisse mit uninteressanten Figuren den Fortgang der Handlung retardieren, ohne dass übergreifende Formstrukturen die Spannung erhielten, ist das bald ermüdend. Mehr als eine Kurzgeschichte war da eigentlich nicht drin.

Montag, 16. September 2013

1921: Rafael Sabatini: Scaramouche (Großbritannien)


For your eloquence and your arguments shall be my heritage from you. I will make them my own. It matters nothing that I do not believe in your gospel of freedom. I know it - every word of it; that is all that matters to our purpose, yours and mine. If all else fails, your thoughts shall find expression in my living tongue.

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Eine Romanze aus der Französischen Revolution: Der Untertitel trifft es, trifft auch das Frivole dieses Historienromans. Von der Provinz, der Bretagne aus nähert er sich dem Zentrum, Paris, in den Jahren (vor) der Revolution. Einen tollen Helden hat er, André Louis-Moreau, Anwalt von Beruf, Swashbuckler, Schauspieler, Teufelskerl von Bestimmung. Er wiegelt die Massen auf, ohne überzeugt zu sein von der Notwendigkeit der Revolte; zugleich aus echter Empörung über den skrupellosen Mord an einem Freund, mit dessen Stimme er spricht. Für Moreau ist vieles ein Spiel, ein Experiment, er ist in manchem mit Diderots Konzept vom Darsteller verwandt: keiner, der in seinen Rollen aufgeht, sondern einer, der in jeder Rolle noch über diese reflektiert und mit ihr spielt - und den gerade das zu den erstaunlichsten Anverwandlungen und Virtuositäten befähigt.

Auf die Bühne flieht er als politisch Verfolgter. Die ziemlich verpeilte Commedia-dell'Arte-Truppe, in die er durch reinen Zufall gelangt, mischt er auf und führt sie zu Erfolgen auf öffentlichen Bühnen. Ein wenig allegorisiert Rafael Sabatini hier, mit dem Commedia-dell'Arte-Theater, auch sein eigenes Unterfangen. Eine eigentlich nicht mehr ganz auf dem Stand des ästhetischen Materials befindliche Kunstform, der wenig durchpsychologisierte, von keinen Formexperimenten angekränkelte Abenteuerroman, wird auf sehr überzeugende Weise reimaginiert und wiederaufgeführt. (Die Nachnamensgleichheit der Helden lässt vermuten: Scaramouche ist auch als Kontrafaktur von Flauberts Revolutions-Nichtromanze Education sentimentale intendiert.)

Aufs Theater folgt Schwertkampf, erst im Privaten, dann auf den Bühnen der sich jetzt tatsächlich entfaltenden Revolution. André-Louis Moreau ist ein tolles Subjekt für einen solchen Roman, durch und durch Spieler, Liebender, der sich von zwischendurch gefassten Heiratswünschen schnell wieder losmachen kann. Scaramouche in der Tat, Clown mit verstellter Sprache, einer, den das Schicksal beutelt wie der Sturm ein Schiff auf der See, und doch auch einer, der da nur deshalb heil rauskommt, weil er zwar ohne großen Plan, aber als Situationsmächtiger ein beträchtlich begabter Steuermann seiner selbst ist.

Mittwoch, 11. September 2013

1920: Colette: Chéri (Frankreich)

"My poor Chéri! It's a strange thought that the two of us - you by losing your worn old mistress, and I by losing my scandalous young lover - have each been deprived of the most honourable possession we had upon this earth!"

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Am Ende sieht Léa von Ronval eine alte, atemlose Frau im Spiegel, die ihre eigenen Bewegungen ausführt: Das ist, wie sie weiß, sie selbst, wenngleich sie sich fragt, "was sie mit dieser verrückten Kreatur zu tun haben könnte". Chéri ist ein Roman über Selbstbilder, aber mit einem Twist. Ein Roman darüber, wie Léa von Ronval, die nicht mehr ganz junge Frau (sie ist um die fünfzig), sich durch die Liebe und Beziehung zu einem jungen Mann einen Spiegel schafft, in dem sie sich bewundern kann. Und wichtiger noch: Weil in seinem Blick ihr Selbstbild und das Bild, das die Gesellschaft sich von ihr macht, zur Deckung kommen, ist wahr, was Léa imaginiert: Sie ist noch begehrenswert, sie ist noch nicht alt.

Chéri ist kein Roman über die im Titel genannte Figur, den jungen Mann. Mit ihm hat Léa ein Verhältnis, lange Jahre, und es irritiert ihn wenig, dass sie seine Mutter sein könnte. Freilich sind sie an sehr unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben. Er experimentiert im Vorraum seiner eigentlichen Erwachsenenbiografie, die Hochzeit mit einer Gleichaltrigen steht bevor und findet statt (er muss erst einmal enttäuscht werden, das ist klar). Für Léa ist es der letzte Akt einer durch eigene Willens- und Self-Fashioning-Kraft hinausgeschobenen Jugend. Was nun folgen kann, zeichnet Colette mit schonungsloser Bösartigkeit. Grotesk geschminkte Greisinnen, die im Kontrast zwischen ihrem gewaltsam aufrechterhaltenen Selbstbild und den Blicken der Mitwelt (und denen Léas bzw. erst recht Colettes) nur lächerlich scheinen können.

Eine letzte Rückkehr Chéris, eine letzte Liebesnacht besiegeln die Unwiderruflichkeit des Wandels, der eingetreten ist: Trotz äußerster Sehnsucht kann Chéri in Léa nicht mehr sehen, was sie in ihr zu sehen ihm durch Verführung möglich gemacht hatte. Der Verkehr der Imaginationen ist zusammengebrochen, die Wiederaufnahme muss, weil der Wunsch und der Wille zu stark sichtbar geworden sind, scheitern. Was bleibt, ist der nüchterne Spiegel zwischen den Fenstern. Darin die alte Frau, die Fremde, die verrückte Kreatur, die Léa von Ronval von nun an für die Anderen und vor allem, das ist das Schlimme, auch für sich selbst ist.

Freitag, 6. September 2013

1919: Federigo Tozzi: Con gli occhi chiusi (Italien)

Pietro betrachtete den Rauch, und dabei sah er - wie etwas ganz Reales, das ihm ein Unwohlsein verursachte -, seine Mutter vor sich, wie sie zu Hause zu einer Schublade ging und etwas herausnehmen wollte. Aber alles wich vor ihr zurück! Und als sie trotzdem nicht aufgab, verschwand die Schublade in der Wand. Da war es ihm, als spüre er ihre Hände auf seinem Gesicht, wie einen großen Kuß: also ob die Hände ihn küßten.

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Der Vater ist ein fremdes Prinzip. Gastwirt in Siena, "Il Pesce Azurro", es gibt in seinem Leben nichts als Geld und Besitz und niemand bekommt etwas umsonst. Der Sohn, Pietro, den ihm die Frau nach sieben Toten als achten und gebar, kann ihm nur schwächlich erscheinen mit seiner Liebe zu Büchern, mit seiner Indolenz, dem Fehlen jedes entschlossenen Willens. Fast, denkt man, lebt dieser Sohn für ihn nicht. Pietro besucht die Malschule, vielleicht ist etwas mit Kunst das, was er sucht, aber es gelingt nicht, eine schiefe Zeichnung wird kurz vor Augen geführt, er verfolgt das nicht weiter. Scheitern, ohne es groß versucht zu haben: darauf läuft vieles in seinem Leben hinaus.

Die Liebe vor allem. Da ist Ghisola, die Nichte seiner Amme, mit der er auf dem Gehöft des Vaters gespielt hat. Sie begehrt er, oder eher: Sie zu begehren ist er entschlossen. Und er sieht nicht, oder will nicht sehen, dass Ghisola längst eine ausgehaltene Frau ist. Er nähert sich ihr, er verspricht ihr die Ehe, will sie aber davor nicht berühren. Daraus macht Tozzi, der Wissensvorsprünge erlaubt, dagegen aber per erlebter Rede auch Empathie mit seinem Protagonisten stellt, einen komplizierten Schreittanz des Unausgesprochenen. Das Öffnen der Augen erfolgt spät, sehr spät, auf der letzten Seite erst - nicht als Erlösung, sondern als Einsturz einer zuvor schon mehr als prekären Existenz, für die das Leben (dies Leben) selbst ein fremdes Prinzip scheint.

Dienstag, 3. September 2013

1918: Booth Tarkington: The Magnificent Ambersons (USA)


When times are gone they're not old, they're dead! There aren't any times but new times!

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Ein Abgesang, ein großer Abgesang - und im übrigen mittlerer Teil einer Trilogie aus Standalone-Romanen, von denen dieser nicht nur wegen der Verfilmung durch Orson Welles der berühmteste ist. (Booth Tarkington erhielt auch einen seiner beiden Pulitzer-Preise dafür.) Die Ambersons, magnificent noch im Titel und in der Tat zu Beginn des Romans, sind eine zu Reichtum und Ruhm in der Stadt gelangte Familie. Sie besitzen Häuser und Grund, man kennt ihren Namen und beobachtet sie und ihr Tun wie das kleiner Könige. Der Beginn, von dem aus es hinab und dahin und Richtung Gegenwart geht, spielt kurz nach dem Bürgerkrieg. Schauplatz ist eine ungenannte Stadt, die nach Indianapolis modelliert ist - Tarkington gilt als großer Epiker des Mittleren Westens.

Epos heißt hier: Es wird über Generationen erzählt. Im Zentrum steht, als Figur, die den Niedergang erlebt und verkörpert, George Amberson Minafer, ein Mann, der in Stolz und Selbstgerechtigkeit blind ist für das, was sich um ihn herum vollzieht. Seine Mutter hatte einst den solideren, aber eben auch wenig aufregenden ihrer zwei Bewerber gewählt. Der Konkurrent kehrt nach zwanzig Jahren zurück in die Stadt, als Unternehmer und Innovator: Er baut und verkauft Autos. Erst rufen ihm die Jungs auf den Straßen noch "Gitt a hoss!" hinterher, dann sieht auch der gleichfalls spottende George Amberson - in jeder Hinsicht hoch zu Roß - nur noch die Rücklichter des neuesten Wagens. Ziemlich kompliziert überkreuz sind die Liebesgeschichten gebaut, die Tarkington gekonnt tragifiziert. Die Mutter liebt den, den sie nicht nahm, noch jetzt. Der Sohn unterbindet die nach dem Tod des Vaters mögliche Ehe, hat freilich ein Auge auf die Tochter des Autounternehmers geworfen.

Das ist ohne Zweifel etwas schematisch. Das Auto als Dingsymbol des Fortschritts: Geschenkt. An der Deutung lässt Tarkington mit einem elegischen Einstieg kaum einen Zweifel. "The Magnificent Ambersons" ist Abgesang, erzählt von Niedergang. Alles wird grau im Ruß der Industrialisierung. Jedoch sieht der Erzähler genau hin und kennt mit den Verblendeten, die mit der Zukunft keine gemeinsame Sache machen, selbst fast keine Gnade. Noch das letzte, was von den Ambersons blieb, der Name einer immer unbedeutender werdenden Straße im einstigen Zentrum der Stadt, wird beseitigt. In einem letzten Atemzug immerhin werden die Familien versöhnt.

Mittwoch, 28. August 2013

1917: Miguel de Unamuno: Abel Sanchez (Spanien)


And I desired her more than ever and more furiously than before. During one of the interminable shallow and sluggish sleeping spells of that night I dreamt that I possessed her beside the cold and inert body of Abel. That night was a tempest of filthy desires, of rage, of vile appetites, of futile wrath. With daylight and the weariness of so much suffering, reason returned to me and I understood that I had no right whatsoever to Helena. But I began to hate Abel with all my soul, and, at the same time, to plan the concealment of this hatred, which I would cultivate and tend deep down in my soul's entrails.

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Die Geschichte von Kain und Abel, in die Gegenwart verlegt. Kain ist Joaquin Monegro, Arzt. Abel ist Abel Sanchez, Maler. Sie sind beste Freunde von frühester Kindheit. Joaquin begehrt die Frau, deren Porträt Abel malt, bis er diese Malerei zum Dantezitat des Erzählers unterbricht: "An jenem Nachmittag malte er nicht weiter. Und die zwei wurden ein Paar." Sie heiratet ihn. Der Arzt hält auf den Maler eine bewegende Rede, die an dessen Ruhm ihren Anteil haben wird. Von früh an ist das Verhältnis der beiden gegen den Anschein durch eine untergründige Konkurrenz bestimmt. Der Arzt hat den Ehrgeiz, dass von ihm etwas bleibt. Er arbeitet an Werken für die Nachwelt. Er schreibt eine Konfession, die er an die Tochter adressiert. Und sein finaler Plan ist ein vernichtendes Buch über den Maler, das dessen Bild für die Ewigkeit festschreiben soll. Und am Ende schlägt Joaquin Abel zwar nicht tot, tötet ihn nicht einmal im ganz strengen Sinn, will diesen Tod aber so sehr, dass die moralische in eine reale Schuld umschlägt. Kaum zugespitzt gesagt: Abel stirbt an und durch Joaquins Willen.

Miguel de Unamuno erzählt das nicht psychologisch - oder sonst - realistisch. Er löst seine Geschichte auf in Szenen, kleine Psychodramen der Eifersucht und des Rechtens. Keine Realismuseffekte, keine ausgemalte und herbeiilludierte Welt, die Ereignisse schreiten im Protokollstil voran und in dieses scheinbar objektive Gerüst werden Dialoge und Joaquins Gedanken und die Auszüge aus seinen Konfessionen gehängt. Was Abel wirklich denkt, was ihn treibt, ob an den Spekulationen Joaquins etwas ist oder nicht, bleibt fast völlig unklar. Man hat nur seine Antworten, seine Reaktionen auf die Vorwürfe, die Blicke seiner Frau und der Joaquins. Und man hat gewaltigen Zweifel - daran, dass in Joaquins Beschreibungen und Unterstellungen der Wille zur Gerechtigkeit waltet.

Ruhmsucht und Ruhmneid, darauf spitzt Unamuno das Verhältnis der Freunde zu, zweier Männer von großer Begabung. Reine Freundschaft, also dass der eine das Beste für den anderen will, ist unmöglich. In die alttestamentarische zitiert Unamuno die griechische Mythe hinein: Helena ist der Name der Frau, die Joaquin begehrt, der Frau, die Abel vorzieht. Zwar stiftet sie Zwietracht, aber die eigentlich tödliche Kraft ist Joaquins Begehren nach dem Begehren, sein Wunsch gegen das eigene Wissen, gegen das erkannte Recht. Dieses psychische Tiefenrelief arbeitet Unamuno heraus, so intensiv, so radikal, dass an Realien der Gegenwart außer dieser Struktur wenig bleibt. Im Umkehrschluss kann sie fast nur als überzeitlich erscheinen.

Donnerstag, 22. August 2013

1916: Mark Twain: The Mysterious Stranger (USA)


Satan reached out his hand and crushed the life out of them with his fingers, threw them away, wiped the red from his fingers on his handkerchief, and went on talking where he had left off.

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Betrug, Betrug: Dies Büchlein dürfte es de jure nicht geben. De facto allerdings: erschien es als posthumer Roman von Mark Twain. Nur haben sich die Herausgeber da etwas zurechtgebastelt, das zwar eine Menge Twain enthält, aber nach Art des Formschinkens. Hier ein Stück aus dieser Fassung, da ein Stück aus einer anderen, die durchaus unterschiedlichen Namen des Protagonisten flugs angeglichen und hier und da auch der Abrundung halber selbst was dazuverfasst als Twain-Pastiche. Jahrzehntelang kam das nicht raus und galt als des berühmten Autors letzter Roman.

Mir kann es egal sein. Und sehr seltsam ist das Buch als Projekt in den unterschiedlichen Fassungen auch so. Österreich, Frühneuzeit, Winter 1590 - Ort und Zeit also durchaus ungewöhnlich. Und dann tritt Satan auf, allerdings nicht mit Satan zu verwechseln. Dabei verwandt, es ist der Neffe, der in dieser Parabel aus heiterem Himmel im kleinen österreichischen Weiler Eseldorf auftaucht. Ein paar Jungs, darunter der Ich-Erzähler, freunden sich mit ihm an. Satan kann tolle Sachen: Er vermehrt Speis und Trank, zum Beispiel. Vor allem aber kann er in Lebensläufe eingreifen, zum besten, sagt er, der betroffenen Menschen. Das wäre schön, denn Verbesserungsbedarf besteht. Hexen werden verbrannt, Denunziation herrscht, der Mensch ist des Menschen Wolf. Leider aber ist Satan in Wahrheit ein grandioser Verschlimmbesserer vor dem Herrn. Seine Eingriffe führen meist zu schnellerem Tod, die Maßstäbe, an denen Satan das als Verbesserung misst, können keine menschlichen sein.

Eine Parabel übers irdische Missvergnügen in S, die wie alle Parabeln nicht an ihrer Botschaft gemessen sein will, sondern an den Einfällen, die sie hat, um diese an den Mann zu bringen. Schöne, schön böse Momente hat das. Satan erschafft ein paar Menschlein und als sie ihm auf die Nerven gehen, werden sie flugs wieder zerquetscht. Erzählmoralisch ist das kompliziert: Satan ist der große amoralische Drübesteher, gegen den sich der Ich-Erzähler empört. Die Twain-Perspektive geht weder im einen noch im anderen auf: Sie ist durch den Zynismus schon durch und steht, aber von Hoffnung befreit, über den Undingen der Welt. Die Herausgeber haben ein Loblied auf den Atheismus als Ende fingiert. In Wahrheit hat Twain das in mehreren Versuchen eben nicht schlüssig abbinden können. Wahrscheinlich liegt gerade darin eine moralische Stärke.

Montag, 19. August 2013

1915: P.G. Wodehouse: Something Fresh (Großbritannien)

His life was a life which lacked, perhaps, the sublimer emotions which raised Man to the level of the gods, but it was undeniably an extremely happy one. He never experienced the thrill of ambition fulfilled, but, on the other hand, he never knew the agony of ambition frustrated. His name, when he died, would not live for ever in England's annals; he was spared the pain of worrying about this by the fact that he had no desire to live for ever in England's annals.

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 Der Mann treibt Sport vor der Haustür: Erst lacht die britische Mitwelt sich tot, dann gewöhnen sich alle daran. Sein Job: Er schreibt Detektivgeschichten in trivialer Manier. Sein Traum: war das nicht. Da lernt er die neue charmante Mitbewohnerin kennen, auch sie eine Autorin, die weit abseits der Weltliteratur reüssiert. Erst lacht sie ihn aus, dann kommt man sich näher. Bald wird daraus jedoch eine Entwendungskonkurrenz. 

Auftritt Lord Blandings. Komplett zerstreut und mit dem jüngeren Sohn alles andere zufrieden. Immerhin hat er diesen nun an die Tochter eines befreundeten amerikanischen Millionärs vermittelt. Verlobungsvorbereitungen auf dem Lande. Leider hat Blandings in seiner Zerstreutheit aus Versehen einen äußerst wertvollen Skarabäus des skarabäenverrückten Millionärs mitgehen lassen. Der will diesen zurück und engagiert den jungen Sportsmann und Detektivgeschichtenverfasser zur Rückentwendung. Seine Tochter hat unabhängig davon die Mitbewohnerin geheuert. Man kennt sich von früher. Porzellan geht zu Bruch. Der Skarabäus ist anders noch einmal weg. Ein fetter Mann kompliziert alles. Hilarity ensues.

"Something Fresh" ist eine Typenkomödie, klassisch gebaut. Mit Tapetentür und Hintertreppe, mit Herren- und Dienstbotenebene, wobei P.G. Wodehouse eher auf Augenhöhe mit den niederen Schichten unterwegs ist. Schon weil er die Fallhöhe ausschließlich für komische Zwecke in Dienst nimmt. Man wird es Humor nennen müssen: Großes wird klein, zu allem bleibt der Erzähler sehr souverän in Semidistanz. Man wird es auch Humor nennen können: Es ist komisch, in seiner mittleren Schärfe, die kaum je betulich wird, das Allzumenschliche nie denunziert und selbst keine Parteien, sondern nur die eigene Abständigkeit kennt.

Mittwoch, 14. August 2013

1914: Natsume Soseki: Kokoro (Japan)



You were prepared to rip open my heart and drink at its warm fountain of blood. I was still alive then. I did not want to die. And so I evaded your urgings and promised to do as you asked another day. Now I will wrench open my heart and pour its blood over you. I will be satisfied if, when my own heart has ceased to beat, your breast houses new life.

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Das Jahr: 1914, nach dem Tod des Kaisers das Ende der Meji-Periode, die für Japan die Öffnung für den Westen gebracht hat. Das thematisiert Natsume Sosekis Roman, er verdichtet die Verwirrung der historischen Zeit aber auf Innenleben statt Außengeschehen. Aus drei Abschnitten besteht der Roman, von drei Männern erzählt er. Das ergibt aber keine Symmetrie.

Im ersten Teil berichtet der noch junge Ich-Erzähler - Student, was er studiert, erfährt man aber ausdrücklich nicht -, wie er einen deutlich älteren Mann kennenlernt: Sensei nennt er ihn, Lehrer also. Er sieht ihn als Vorbild und Weisen, konstatiert allerdings auch dessen wunschloses und für ihn unerklärliches Unglück. Im zweiten Abschnitt reist der Erzähler zu seinem sterbenden Vater und eilt noch vor dessen unmittelbar bevorstehendem Tod zurück in die Stadt, weil er von Sensei einen Brief erhalten hat, in dem dieser von den Gründen für den Selbstmord berichtet, den er in diesem Brief ankündigt und inzwischen begangen haben wird. Der dritte Teil ist dieser Brief, der Ich-Erzähler der ersten Teile kommt nicht wieder zu Wort. Man erfährt, wie Sensei einen Freund, der nur K genannt wird, einst betrog - wobei dieser Betrug in einer komplizierten Doppelzüngigkeit in Begriffen der Ehre besteht. K bringt sich um, Sensei gibt sich die Schuld und lebt ein Leben, dem er keinen Sinn geben kann.

Die Ära des Umbruchs bestimmt untergründig den Roman. Auf den ersten Blick scheint er auf die Psychodramen dreier Männer beschränkt. Und so detailliert diese Dramen als individuelle Schicksale nuanciert sind, so sehr wollen sie lesbar sein als Reaktionsformen auf die neue Zeit. Zwei der drei Männer enden durch Selbstmord, das Schicksal des Dritten bleibt offen. An der grundsätzlichen, ja radikalen Rückwärtsgewandtheit der Perspektive ändert dieser Dritte aber nichts: Wohin es mit ihm gehen soll, bleibt vollkommen unklar. Der Umbruch erscheint als Kluft, die nicht so sehr die Generationen trennt, sondern den Einzelnen spaltet und lähmt.  Ein ungeformtes Dunkel, das die Gestalt moralischer Dilemmata annimmt. Der Schock des Neuen bewirkt nur Lähmung und Stasis. Ob die Blutübertragung, von der Sensei in seinem Brief schreibt, bei seinem Schüler neues Leben in Gang bringen kann, ist fraglich. 1914 ist in diesem Roman: ein Moment ohne Aussicht auf Zukunft.