Montag, 2. Dezember 2013

1937: Joseph Roth: Das falsche Gewicht (Österreich)

Die meisten sterben dahin, ohne von sich auch nur ein Körnchen Wahrheit erfahren zu haben. Vielleicht erfahren sie es in der anderen Welt. Manchen aber ist es vergönnt, noch in diese Leben zu erkennen, was sie eigentlich sind. Sie erkennen es gewöhnlich sehr plötzlich, und sie erschrecken gewaltig. Zu dieser Art Menschen gehörte der Eichmeister Eibenschütz. 

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Postlapsarisch, von Anfang an, diese Geschichte: Anselm Eibenschütz hat seinen Abschied genommen beim Militär, hat eine Frau geheiratet, ohne es so recht zu wollen, wurde ans Ende der k.u.k-Monarchie versetzt, trägt seinen Schnurrbart noch immer mit Stolz, ist aber kein Soldat mehr, sondern ein Eichmeister, den in der Stadt an der Grenze zu Russland weiß Gott niemand braucht. Man lebt hier gut mit falschen Gewichten, jeder weiß um den Betrug und einer, der die krummen Linien, mit denen alle glücklich sind, mit dem Lineal des Gesetzes geradezuziehn versucht, macht sich vor allem eines: außerordentlich unbeliebt.

Einmal auf der schiefen Ebene gerät - den geraden Linien des Rechts sehr zum Trotz - alles ins Rutschen. Eibenschütz verliert die Lust an seiner Frau. Sie betrügt ihn und gebiert einen Sohn, nicht von ihm. Und Eibenschütz verliebt sich, in die Frau, die einem andern gehört, und als der abserviert ist, muss er sehen: Noch immer hat er sie nicht exklusiv, im Winter taucht ein Kastanienbrater auf mit Vorrecht. Die Dinge stehen also sehr schlecht. Eibenschütz beginnt zu trinken. Die Cholera kommt, tötet wahllos, auch Eibenschütz' Ehefrau, sie winkt ihm noch einmal zu, er verliert auch den Sohn, der nicht sein Sohn ist.
Alles ist düster und wird nur noch düstrer. Eibenschütz verliert in Unglück und Alkohol jedes Maß. Er lässt sich gehen, wird in der Ausübung des Gesetzes auf der anderen Seite fanatisch.

Der Ehrgeiz von Joseph Roth: Die Melancholie des Niedergangs einer Welt aus jeder Pore seiner Figuren zu schwitzen, in jede Ritze des gottverlassenen Kaffs an der Grenze zu schreiben. Falsch sind die Gewichte, falsch ist das Leben: Anselm Eibenschütz ist die Verkörperung eines Niedergangs, dem Joseph Roth seine eigene Poesie abgewinnt. Das Glück: vergänglich. Die Gesellschaft: zerfällt. Die Zukunft: schwarz in schwarz. Dafür jedoch ist Roths Prosa gemacht: Sie singt sehr schön vom Ende einer Epoche. Kein Benjaminscher Engel, eher eine unglücksbesoffene Nachtigall der Geschichte.

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