Dienstag, 26. November 2013

1936: C.F. Ramuz: Le garçon savoyard (Schweiz)

Sie hatten den See gerade an der Spitze ihrer Schuhe. Der See war an jenem Morgen erdfarben, so daß es war, als breitete sich unter ihnen eine riesengroße, dunkelgraue, von etwas helleren, sich überkreuzenden Straßen durchzogene Ebene aus. Sie war glatt und unbewohnt. Auf ihrer Oberfläche war übergenug Raum für Städte, Dörfer, Gebäulichkeiten aller Art, für Äcker und Felder und für einen großen Menschenverkehr: und so wunderte man sich, daß kein Mensch dort zu sehen war, weder auf den Straßen, die sich über das Wasser zogen, noch zwischen ihnen.

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Von einem Satz zum nächsten springt das Tempus, und im nächsten zurück: Präsens, Präteritum, Plusquamperfekt. Es ist kein Halten, es ist kein Halt. Einer träumt von einer Seiltänzerin, vom Zirkus, legt wie im Traum die Hände um den Hals einer anderen Frau, sie zu töten. Die ist es nicht, die er will, auch die, der er versprochen ist, ist es nicht. Mercedes, Georgette. Savoyen. Da ist das Gebirge, da ist der See, da ist das Wasser, da ist der Kahn, dessen Zeit zuende geht - Motorkahnzeitalter bricht an -, da ist das Lokal mit Mercedes, die Natur, die noch einmal alles auffährt an Poesie, was die Sprache nur für sie findet.

Ramuz entwirft aber Bilder, die nicht wie gemalt sind, sondern wie festgehalten mit einem dynamischer rahmenden, perspektivierenden Blick. Er hat, denkt man, Filme gesehen. Seine Sprache geht träumerisch dahin, ist nicht auf Unsichtbarkeit aus, durchwandert Berge und Täler wie das Lied, das in allen Dingen geschlafen hat und nun aufgewacht ist: ruhelos. Wiederholungen, als könnten sich Sätze vom einen zum nächsten vergessen. Ein Wurzelloser, ein Luftwandler ist dieser Joseph, von dem Ramuz erzählt, aber er ist alles andere als leicht, als schwerelos. Mörder auch, haltlos, kein Triebtäter, obwohl, was er tut, fast ohne seinen Willen geschieht: ein Dahintriebtäter vielleicht. Er geht durchs Gebirg, als wäre es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn kann.

Anderes geschieht, gut ist es nicht. Ein alter Mann, dem die eigene Tochter das Geld geklaut hat, hängt sich auf, hängt vier Tage am Strick, im Gebirge. Man schneidet ihn ab, Bäume hindern den Sturz in den Abgrund. Ein düsteres Buch, das der Zeit keinen Einhalt gebietet. Ein Buch, aus dem Finstres heraufmurmelt, in dem immer wieder einer sagt oder schreibt: Es war doch die Wirklichkeit. Es gibt das Leben, und das ist schön. Versicherungen, die sich den Boden, dessen sie sich versichern, im selben Atemzug wegziehen. Alles ändert, heißt es wieder und wieder in der ersten deutschen Übersetzung von Werner Johannes Guggenheim, alles ändert, das bekommt man kaum aus dem Ohr.

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