Dienstag, 29. Oktober 2013

1929: Philipp Soupault: Le grand homme (Frankreich)

Er wollte die Töne, die Düfte, sogar die Farben verjagen, all diese zahllosen Einzelheiten, die Erinnerungen wachrufen. Er fuhr schnell, glücklich, die Gefahr so nahe zu spüren. Weder Hunger noch Müdigkeit ließen ihn halten. Im Gesang des Motors, in der monotonen und rasenden Flucht der Landschaften fand er eine Freude, die ihn so erregte, daß er immer schneller vorwärts jagte. Die Stunden lösten sich im Staub und Lärm auf.

***

Ein Roman, der auf der Höhe, ja auf dem Wellenkamm seiner Gegenwart nicht nur spielt, sondern verfasst ist. Surrealistisch nicht, weil er die Wirklichkeit hinter sich lässt, sondern weil er sie in Tempo und Figurenzeichnung zuspitzt und forciert. Dabei fast ein Schlüsselroman. Der große Mann, der hier Lucien Gavard heißt, war jedem, auch ihm, als Autofabrikant Louis Renault mühelos zu erkennen, zudem der Onkel Soupaults. Mit den Schritten eines Riesen erzählt der Roman von Emanzipation, Erfindergeist, Tatkraft und Aufstieg des Mannes, der sich den Erfolg einfach nimmt. Und auch die Frau, eine Schönheit, die den großen Mann sicher nicht liebt, aber kühl und kalt das Geld, das Leben der Reichen, die Partys und vielleicht auch den Ennui und das Leiden daran nicht sucht, aber will. Der Wille tritt hier allerdings auf als eine quasi-objektive Kraft, die mit Individualität nichts zu tun hat.

Ebenfalls auftritt, als Klischee einer anderen Kraft, der schwarze Tenor Putnam. Er verdreht mit seiner Stimme, seiner Eleganz und dem Tierhaften, das die Gesellschaft ihm als Schwarzen mit Lust unterstellt, tout Paris den Kopf. Auch die Frau des großen Mannes lässt er nicht kalt; oder jedenfalls schüttelt er die Eiswürfel, aus denen ihre Gefühle bestehen, ein wenig zurecht. Ein vor und zurück, ein Hin und Her: Bewegung im kubistischen Kräftefeldraum dieses Romans. Dessen Erzähler übrigens sagt zwar gelegentlich ich, erhält aber keine Kontur als Person.

Alles ist hier nur Zug, Vektor, ein Roman in Szene und Umschwung. Als animal triste kehrt der große Unternehmer von einer US-Reise zurück: Gegen den amerikanischen Autokapitalismus ist sein französisches Reich doch sehr alte Welt. Wie vermutlich auch die Frage danach, ob das aus einer kritischen, satirischen oder überhaupt identifizierbaren Haltung erzählt ist: All dies nicht, dabei sehr wohl böse, aber durch die Mimesis ans Kraftfeld des Erzählten in dieses sozusagen hineinobjektiviert.

Dienstag, 22. Oktober 2013

1928: William Somerset Maugham: Ashenden (Großbritannien)


For Mr. Harrington was a talker. He talked as though it were a natural function of the human being, automatically, as men breathe or digest their food; he talked not because he had something to say, but because he could not help himself, in a high-pitched, nasal voice, without inflection, at one dead level of tone. He talked with precision, using a copious vocabulary and forming his sentences with deliberation; he never used a short word when a longer one would do; he never paused. He went on and on. It was not a torrent, for there was nothing impetuous about it, it was like a stream of lava pouring irresistibly down the side of a volcano.


***

Bücher, die mit einer Poetik beginnen, sind erst mal verdächtig: Verteidigungshaltung. William Somerset Maugham schreibt vor, gibt Präskription und Rezept fürs Verfassen guter Fiktionen. Eine Geschichte hat Anfang, Mitte, Ende zu haben, und zwar - Anti-Godard - in genau dieser Reihenfolge. Alles andere ist Wirklichkeit, Durcheinander, keine Literatur. Klingt nach Avantgardeverachtung und ist es auch. Was setzt Maugham hier unter Rechtfertigungsdruck? Simpel: Er erzählt aus seinem Leben. Das aufregend klingt: die Jahre als Geheimagent während des Krieges. Was, versichert er, nur sehr stellenweise aufregend war: im Alltag ereignislos, monoton. Diese Monotonie will er nicht erzählen, erzählte Monotonie ist keine Literatur. Literatur ist Rettung des langweiligen Alltags in komponierte Fiktion. So sieht es aus.

Ashenden ist keine Memoirenliteratur, den Bruchstücken aus dem Realen zum Trotz. Übrigens auch kein Roman, streng genommen, sondern eine Reihe von Erzählungen aus dem Leben des Titelhelden, den Maugham - Dienst ist Dienst und Fiktion ist Fiktion - in die dritte Person überführt. Und er tut das äußerst gekonnt. Einseitige Poetiken sind ein Problem, eine einseitige Begabung, die ihre Einseitigkeit poetologisch verschleiert, ist keines. Somerset Maugham kann nämlich erzählen. Seine Geschichten haben Anfang, Mitte und Schluss, in dieser Reihenfolge. Am Ende gerne eine Pointe. Mal tödlich, mal todtraurig, mal in ihrer Bösartigkeit beinahe komisch. Der mit viel Aufwand vom haarlosen Mexikaner getötete Mann war zum Beispiel der falsche. (Kein Wunder, dass Hitchcock da für seinen "Secret Agent" zugriff.) Dann gibt es eine Liebesgeschichte, die schön umwegig davon erzählt, wie einer auf das richtige Leben aus schlechten Gründen verzichtet. Das ist auch die Geschichte, die sich als das Rohmaterial für die Erzählung gibt, die sie ist. Was fast postmodern klingt. So meint Somerset Maugham das nicht. Gutes Erzählen hat außerdem seinen Preis: Den Mangel an Monotonie merkt man den Erzählungen manchmal als Anstrengung an. Trotzdem: Das sind tolle Mensch-im-Zwiespalt-Geschichten.

Freitag, 18. Oktober 2013

1927: François Mauriac: Thérèse Desqueyroux (Frankreich)

Argelouse is truly a land's end, one of those places beyond which there's nowhere to go. Less than a village, it is what people in this region call a quartier; it is a hamlet with a few tenanted farms scattered around a rye field, without a church or town hall or even cemetery, ten kilometers from the village of Saint-Clair, to which it's connected by a single dirt road.

***

Sie kommt aus dem Gericht, von Anwalt und Vater gerahmt, sie ist frei. Thérèse Desqueyroux hat einen Anschlag aufs Leben ihres Ehemanns unternommen, an ihrer Schuld lässt ihr innerer Monolog keinen Zweifel, aber vor den Augen des Gesetzes ist sie unschuldig. Bernard, ihr Ehemann, der genau weiß, dass ihm Thérèse nach dem Leben getrachtet hat, befreit sie mit einer Falschaussage von jedem Verdacht. Nicht aus Liebe, gewiss nicht. Und in Wahrheit ist Thérèse alles andere als frei, das wird immer klarer, je näher sie auf der Fahrt vom Gericht zurück ans Ende der Welt dem sie erwartenden Ehemann kommt. Innere und äußere Landschaften ziehen vorbei, in genauer, lakonisch poetischer Sprache, die auf symbolisches Ineinanderspiegeln von Seele und Natur verzichtet.

Argelouse, das ist das Ende der Welt. Der prosaische, jagdbegeisterte Mann, dem Ehre und Ansehen über alles gehen - er ist für Thérèse gerade in seinem vollkommenen Mangel an Dämonie die reine Hölle. Mauriac leiht, oder schenkt, ihr seinen subtilen Blick, seine zarten Seelenregungen, seine Verzweiflung. So sehr, dass man als Leser selbst Gift mischen möchte. Und dann sperrt Bernard sie ein, in Argelouse, im Haus, mad woman in the Obergeschoss, Thérèse, die nicht schön ist, aber Charme hat und die sich diese Rückkehr ganz anders ausgemalt hat: "How completely we can reshape the people we know as soon as they're not close by!"

Thérèse kann Bernard nicht umträumen, und er räumt sie einfach weg. Sie soll festgefroren werden, sozial, aber auch ganz konkret: im Haus, in Argelouse. Solange bis man sie ohne Schaden loswerden kann. Als das geht (Bernards Schwester ist, noch ein Unglück, unter der Haube), wird er sie los. Nach Paris, aus den Augen, aus dem Sinn. Das hätte man dann doch nicht zu hoffen gewagt: Eine offene Zukunft als unter diesen Umständen mehr als glückliches Ende.

Montag, 14. Oktober 2013

1926: Vladimir Nabokov: Mashenka (Russland/Exil)

As he walked he thought how his shade would wander from city to city, from screen to screen, how he would never know what sort of people would see it or how long it would roam round the world. And when he went to bed and listened to the trains passing through that cheerless house in which lived seven Russian lost shades, the whole of life seemed like a piece of film-making where heedless extras knew nothing of the picture in which they were taking part.

***

Die Zimmer der kleinen Pension in Berlin sind nach den ersten Tagen des April durchnummeriert. Es wohnen hier unter der Hut der russischen Wirtin ausschließlich Sowjetexilanten. Zwei schwule Tänzer darunter, eine junge Frau, aber vor allem: zwei Männer, die eine andere, aber abwesende Frau verbindet. Die beiden, Lev Glebovich Ganin und Aleksey Ivanovich Alfyorov, sitzen zu Beginn des Romans miteinander im stehengebliebenen Aufzug im Dunkeln. Da ahnt aber Ganin noch nichts von Alfyorovs Ehe mit Mary, der Frau, die er, Ganin, in seiner Jugend in Russland einst liebte. Das Aufzugdrama ist schnell vorbei, später sieht Ganin ein Foto, erkennt - und erfährt, dass Alfyorov in wenigen Tagen Marys Ankunft erwartet.

In diesen Tagen vor dem Advent spielt der Roman. Ganin plant die Flucht mit der Frau, von der er wie selbstverständlich erwartet, dass sie nach wie vor ihn und keinen anderen liebt. (Es ging auseinander, aber man schrieb sich noch Briefe, zunächst.) Es ist in erster Linie ein Roman über die Durchdringung. Zunächst und naheliegender Weise der Durchdringung der Gegenwart des Exils mit der Erinnerung an die verlorene Heimat. Kapitellang sind diese gewiss nostalgischen, aber durch die Jugendliebe, um die es geht, auch ganz frischen Reminiszenzen. (Eine autobiografische Fiktion, der Nabokov selbst im Vorwort zur Übersetzung seine von Fiktionen nicht freie Autobiografie "Sprich, Erinnerung, sprich" zur Seite stellt.)

Halb expressionistisch, halb aber schöne Allegorie der nicht ganz dichten Wände zwischen Räumen und Zeiten sind auch wiederkehrende Fantasien - des Erzählers -, der die S-Bahn statt auf den Gleisen daneben fast widerstandslos durch das Haus selbst gleiten spürt und sieht. Ein leichtes Zittern, ein Gespenstisch- und Durchsichtigwerden. Ein großartiges Bild für die Existenz im Exil. Den alten Dichter, der sich nach Paris sehnt, aber in Berlin sterben muss, hätte es da fast nicht auch noch gebraucht.

Montag, 7. Oktober 2013

1925: Willa Cather: The Professor's House (USA)

The Mesa was our only neighbour, and the closer we got to it, the more tantalizing it was. It was no longer a blue, featureless lump, as it had been from a distance. Its sky-line was like the profile of a big beast lying down; the head to the north, higher than the flanks around which the river curved.
***

Das Haus des Professors: Eigentlich sind es zwei. Das alte Haus, in dem er mit der Familie gelebt, in dem er vor allem aber im Zimmer der Näherin unterm Dach sein Werk geschrieben hat. Acht Bände, Spanish Adventures in North America. Die sind fertig, die Töchter sind unter der Haube, gegen die Schwiegersöhne hat Professor Godfrey St. Peter, auch wenn sie ihn nicht weiter interessieren, nicht viel. Das erste Großkapitel von dreien, "The Family", zeichnet das Bild des Professors im Kreise der Lieben in einem Moment des heftigen Umbruchs: Er hat ein neues Haus gekauft und stellt fest, dass er aus dem alten nicht raus will. Eine totale Entfremdungserfahrung: Die Frau, die Kinder, das ganze eigene Leben, an dem er seit Jahren gebaut hat - nicht länger seins, er ist müde, er bleibt im alten Haus, unterm Dach.

Im dritten Großkapitel, "The Professor", zeichnet Cather die Groß- und Detailaufnahme des Professors. Die Familie ist in Europa, Godfrey St. Peter ergibt sich einem melancholischen Nichtstun und Dasein zum frühen Tode. All das wäre (nicht mehr als) gutbürgerliche Endzeitstimmungsmalerei mit gegenwartskritischen Elementen, wäre da nicht das mittlere Drittel, das Kapitel "Tom Outland's Story". Tom Outland ist in den Rahmenkapiteln nicht mehr am Leben. Er ging in den Krieg und kehrte nicht mehr zurück. Ein junger Mann, ein Genie irgendwie, das eine Erfindung zurückließ, die die eine Tochter St. Peters, einst Outlands Verlobte, und ihr Gatte zu Geld gemacht haben. Auch sie bauen ein Haus, nennen es "Outland" (eine Domestizierung, wenn es je eine gab), das Häuserbauen ist wirklich ein bisschen dick allegorisch präsent in diesem Roman, wie überhaupt manche Parallel- und Oppositionsbildungen im Erzählbau sich der Deutung arg eifrig aufdrängen.

Wie aber das Mittelkapitel etwas ganz Anderes ins schöne Neuengland hineinragen und aus dem bürgerlichen Roman herausragen lässt, hat seinen Reiz. Erzählt wird Tom Outlands Vorgeschichte, erzählt wird, wie er ein in steile Felsen gehauenes Indianerdorf entdeckte und dort eine ganze Weile verbrachte. Das Kapitel sucht den Bruch, auch indem es sich dem Abenteuerromangenre stark anschmiegt. Und auf die Existenzerschütterungsfunktion, die es in der Professorlebensbeschreibung besitzt, lässt es sich nicht festnageln. Das rumort im Erzählleib wie im Geist des Professors weiter.

Dienstag, 1. Oktober 2013

1924: Dezső Kosztolányi: Pacsirta (Lerche; Ungarn)


His skin had crumpled like paper, and his face was as white as chalk. The extra weight he had put on at the King of Hungary over the last few days had vanished, together with the genial, ruddy glow on his face. Once again he was gaunt, sickly and pale, just as he had been when his daughter had departed.

***

Für eine Woche ist die Tochter, um die das Leben ihrer Eltern kreist, aus dem Haus. Ihr Kosename ist "Lerche", sie fährt aufs Land und schreibt, so hat man es von ihr verlangt, ein Telegramm nach ihrer glücklichen Ankunft. Ganz jung ist die Tochter nicht mehr, 35, erfährt man viel später; alt sind die Eltern, oder fühlen sich so. Ihr Leben ist geregelt, und zwar in der Weise, dass außerhalb des engen häuslichen Kreises wenig geschieht. In der Abwesenheit der Tochter aber geraten die Dinge aus dieser Ordnung. Sie geraten in eine Unordnung, in der die Eltern nicht recht wissen, wie ihnen geschieht. Zum Beispiel gehen sie essen, dort treffen sie Menschen, sie gehen ins Theater, eigentlich wollen sie nicht, aber sehr stark ist ihr Wille nicht. Die Tochter fehlt. Und ihr Fehlen befreit. Dass sie das ahnen, trübt den Genuss.

Akos Vajkay und seine Frau leben in der Provinz. Das Jahr ist 1899. Es gibt die Zeitung, das Theater, Promiskuität (die Frau des Richters), es gibt den jungen aufstrebenden Journalisten. Zwar stellt Dezsö Kostolanyi die Familie Vajkay ins Zentrum, Akos vor allem, aber unter der Hand macht er mit vielen anderen reputierlichen und nicht so reputierlichen Mitgliedern der kleinen Gesellschaft bekannt. Nach langen Jahren geht Akos am Donnerstag wieder in den Club, den er einst regelmäßig frequentierte. Man spielt Karten, man besäuft sich, nachts um drei kehrt der Mann heim zur Frau und beide betrachten sie da ihr Leben und die Tochter im nüchternsten Licht: Sie ist hässlich, sie wird nie einen Mann finden.

Dann kehrt sie heim. Der Zug hat Verspätung, die Eltern malen sich auf dem Bahnhof Katastrophen aus. Aber Katastrophen wären das geringste Problem. Die Tochter steigt aus, das Leben geht weiter, wie früher. Die Auszeit ist vorüber, ein kleiner Karneval, in dem die Dinge nicht auf den Kopf gestellt worden, nur ein wenig verrutscht sind. Schön war es auf dem Land, sagt die Tochter. Sie lügt. Alles in bester Ordnung, sagen die Eltern. Sie lügen, und sie wissen jetzt auch, dass sie es tun. In der Zeitung steht ein Gedicht. Die Tochter schluchzt, aber sie drückt ihr Gesicht ins Kissen. So hört man das Schluchzen nicht.